Besten Dank, lieber Frank für diese Erwähnung und Einschätzung! In gewisser Hinsicht geht es mir ähnlich, denn ich wusste vor 25 Jahren auch nicht, auf was ich mich da eingelassen habe! Hätte ich das gewusst, hätte ich evtl. nie damit begonnen - einerseits angesichts der vielen Zeit, die ich mit der Entwicklung und Befüllung des Biblionetzes verbracht habe in den letzten 25 Jahren (wohlwissend, dass eine Zeit kommen wird, wo Computer diese Arbeit werden übernehmen können) und andererseits aus Erfurcht, dass es mir vermutlich zu Beginn nicht gelingen würde, eine Datenstruktur zu entwerfen, die ein Vierteljahrhundert Bestand haben und meinen wandelnden Bedürfnissen stand halten könnte. (Das Biblionetz hat übrigens über eine Million Verknüpfungen zwischen den Objekten, aber massiv weniger als eine Million Objekte...). Ab einer gewissen Zeit war (und ist) für mich das Biblionetz auch ein informelles Forschungsprojekt, selbst auszuprobieren, wie denn Werkzeuge des persönlichen Wissensmanagments in einer digitalisierten Welt aussehen könnten.
Die Erfahrung der letzten 25 Jahre hat mir auch gezeigt, dass die Grundstruktur des Biblionetzes genügend robust war, um meinen Bedürfnissen auch heute noch zu genügen (oder liegt das daran, dass ich mich die letzten 25 Jahre nicht weiterentwickelt habe?) Das Biblionetz war für mich deshalb auch ein wichtiges Objekt, das mir den Wert meines Informatikstudiums an der ETH Zürich bewusst gemacht hat: Ich hatte im Studium gelernt, einen gewissen Ausschnitt der Welt zu abstrahieren / modellieren und mit Hilfe von gewissen Automatismen einigermassen effizient im digitalen Raum abzubilden oder aufzubauen. Gerade das Biblionetz zeigt: Es waren nicht die konkreten Softwareprodukte relevant (das Biblionetz läuft unter der Haube seit 25 Jahren mit Microsoft Access...), sondern die Fähigkeit, wesentliche Struktureigenschaften des zu Modellierenden zu erkennen und Grundtechnologien zu kennen, um diese digital umsetzen zu können.
Zusammen mit dem von Frank Vohle beschriebenen RSS-Nerdtum würde ich diese Eigenschaft als computational thinking (Biblionetz:w02206) beschreiben, dem von Seymour Papert (Biblionetz:p00192) erfundenen und von Jeanette Wing (Biblionetz:p09720) bekannt gemachten Begriff, der sich mit "denken wie Informatiker:innen" umschreiben lässt. Kein Wunder - ich bin ja schliesslich Informatiker, also werde ich doch hoffentlich so denken, wie Informatiker:innen(Bei dieser Gelegenheit ist mir wichtig zu betonen, dass sich in meiner Wahrnehmung computational thinking nicht komplett von der Informatik lösen und auf abstraktes Problemlösen etc. reduzieren lässt, sondern dass die aktuellen Potenziale und Begrenzungen von derzeit verfügbarer Informationstechnologie Teil von computational thinking sein müssen).
Was mich beruflich seit 25 Jahren umtreibt: Wie lässt sich das notwendige computational thinking beschreiben und vermitteln, das zum Verständnis des digitalen Leitmedienwechsels notwendig ist - ohne dass gleich die gesamte Menschheit ein Informatikstudium absolvieren muss? Seit Jahrzehnten reden wir mit unterschiedlichen Begriffen von Digitalisierung. In der Praxis ist es aber sehr oft eine Schreibmaschinendigitalisierung (Biblionetz:w03334), d.h. die echten Potenziale des Digitalen bleiben ungenutzt und der digitale Prozess ist mitunter noch umständlicher und aufwändiger als der analoge Vorgänger (was Kritiker:innen natürlich in ihrer Kritik am Digitalen bestätigt). Hier gefällt mir Franks Verweis auf das Buch Flatland (Biblionetz:b0334) von Edwin Abott sehr gut: Wie oft raufen sich Informatiker:innen die Haare, weil in Projekten die Potenziale der Digitalisierung schlicht nicht gesehen werden und dieses Nichtsehen so grundlegend ist, dass auch niemand auf die Idee kommt, frühzeitig Informatiker:innen beizuziehen und nach ihrer Sichtweise auf die Herausforderung zu fragen. Als Informatiker:in kommt man sich teilweise tatsächlich vor wie jemand aus Abotts Buch, der/die zu erklären versucht, dass der wahrgenommene Kreis eigentlich eine Kugel oder ein Zylinder sei. Ich bin überzeugt davon, dass zum Verständnis der heutigen digitalisierten Welt ein Grundverständnis von Informatik notwendig ist, genau so, wie wir ein Grundverständnis an Physik, Chemie, Biologie, Psychologie, Wirtschaft etc. benötigen, um die Welt verstehen und gestalten zu können. Dies ist der Grund, warum ich mich für Informatik in der Schule einsetze, das Dagstuhl-Dreieck (Biblionetz:w02886) propagiere oder mit dem DPACK-Modell eine Erweiterung des TPACK-Modells vorschlage, das Technologie eben nicht nur als Anwendungskompetenz betrachtet, sondern unter Digitalitätskompetenz (Biblionetz:w03297) alle drei Dagstuhl-Perspektiven vereint. Denn diese drei Dagstuhl-Perspektiven scheinen mir notwendig zu sein, um künftige Entwicklungen des digitalen Leitmedienwechsels, wie sie sich derzeit exemplarisch grad am von Frank ebenfalls erwähnten ChatGPT (Biblionetz:w03387) zeigen, mindestens im Ansatz einschätzen zu können. Der Flatland-Effekt greift jedoch auch hier: Selbst im Jahr 2023 wird diese Überlegung im Bildungsbereich nicht überall geteilt oder genügend gewichtet (was trotz der anderen grossen aktuellen Herausforderungen langfristig gesehen nicht ganz einzusehen ist). Doch ich habe ja noch Zeit und werde mich auch die kommenden (15, 20, 25?) Jahre als Erklärbär der digitalen Transformation in der Bildung versuchen...Danke dir Beat! Mit Ludwig Fleck wissen wir, dass Denkstile Tatsachen erzeugen. Es gibt aber Denkstile im Plural. Wenn InformatikerInnen z.B. auf PädagogenInnen treffen, dann ist Missverstehen oder Illusion des Verstehens programmiert bzw. nicht unwahrscheinlich :-). Was tun? Denkstiltraining wäre ein Anfang, damit ich überhaupt kapiere, wie der jeweils Andere die Welt modelliert, sagt, was für ihn/sie WESENTLICH ist, vgl. RSS-Feed. Frank
-- FrankVohle - 02 Feb 2023unter anderem deshalb freue ich mich, dass ich seit nunmehr 15 Jahren als Informatiker umzingelt von Pädagog:innen und Psycholog:innen an einer kleinen Pädagogischen Hochschule im täglichen Training das gegenseitige Verstehen üben kann!
Du bist ja auch ein Bildungsinformatiker, Kind zweier Welten, der zwischen den Stühlen schafft. Und von "solchen" brauchen wir mehr.
-- FrankVohle - 02 Feb 2023 Zum Kommentieren ist eine Registration notwendig.Beim Aufkommen einer neuen Technologie, die etwas besser oder schneller erledigt als es der Mensch bisher getan hat, kommt rasch die Frage auf, wie sich verhindern lässt, dass diese Technologie in der Schule zum Betrügen genutzt werden kann. Klassisches Beispiel: Der Taschenrechner. Er kann schneller rechnen als der Mensch. Somit wurde er anfänglich reflexartig für Prüfungen in der Schule verboten.
Längerfristig hat die Menschheit aber gemerkt, dass das pauschale Verhindern von Taschenrechnern in der Schule keine gute Idee ist. Denn die Existenz des Taschenrechners hat die für das Leben relevanten Kompetenzen verändert. Während die meisten der Meinung wären, dass elementares Kopfrechnen weiterhin zu einer vernünftigen Allgemeinbildung gehört, wird niemand mehr behaupten, man müsse im 21. Jahrhundert zuverlässig schriftlich dividieren können im Leben. Dementsprechend wurden Lehrpläne angepasst: Im Lehrplan 21 kommt zwar das schriftliche Dividieren noch vor, das Einüben der zuverlässigen Nutzung des Verfahrens ist aber im Lehrplan 21 nicht mehr vorgesehen.
Beim Aufkommen neuer Technologien muss es erste Priorität sein zu fragen, wie diese Technologie die künftig im Leben relevanten Kompetenzen und damit die Lernziele, -inhalte und -methoden verändert.
Wenn eine Technologie die für das Leben relevanten Kompetenzen verändert, dann ist die Chance gross, dass Menschen lernen sollten, diese Technologie zu nutzen und im Verbund von Mensch und Technologie bessere Ergebnisse zu erzielen. Beispiel Taschenrechner: Das blosse Rechnen hat an Bedeutung verloren (das übernimmt zuverlässig der Taschenrechner), dafür sind das Verständnis von Berechnungsverfahren und abstraktere Themen der Mathematik wichtiger geworden. Ab einem gewissen Zeitpunkt ist es deshalb sinnvoll, Taschenrechner in der Schule und auch bei Leistungsnachweisen zu nutzen, da sonst die Schule und die Leistungsnachweise lebensweltfern werden und nicht mehr die relevanten Kompetenzen vermitteln.
Das Beispiel Taschenrechner zeigt aber auch, dass wir schon in der Vergangenheit der Meinung waren, trotz verfügbarer Technologien diese nicht immer in der Schule und in Leistungsnachweisen zulassen zu wollen. Die Gesellschaft ist der Meinung, dass Taschenrechner In den ersten Schuljahren nicht gross verwendet werden und Schülerinnen und Schüler zeigen sollen, dass sie die Grundrechenarten auch ohne Verwendung des Taschenrechners beherrschen. Mir ist auch dieser Aspekt wichtig: Obwohl wir davon ausgehen, dass wir später im Leben praktisch immer Zugriff zu etwas taschenrechnerartigem haben werden, finden wir es sinnvoll, wenn dieses Hilfsmittel zu gewissen Zeiten nicht verfügbar ist.
Die zweite Priorität bezüglich Kompetenznachweisen beim Aufkommen einer neuen Technologie hat für mich deshalb die didaktische Frage, wann und weshalb diese Technologie nicht beim Lernen und in Kompetenznachweisen verwendet werden sollen. (Ob und wie der Einsatz der Technologie das Lernen unterstützen kann, ist eine andere wichtige Frage, die ich hier aber nicht weiter verfolgen will).
So, und erst wenn wir die ersten beiden Fragen beantwortet haben, möchte ich mich der Frage zuwenden, wie wir gegebenenfalls die Nutzung einer neuen Technologie in einem Kompetenznachweis verhindern können, um valide und gerechte Leistungsnachweise sicherzustellen.
Wenn mir jemand diese Frage stellt, so möchte ich eigentlich zuerst hören, wie diese Person die ersten beiden Fragen beantwortet.
Während wir als Gesellschaft die Frage bezüglich Taschenrechner weitgehend hinter uns haben, steht sie uns bezüglich anderer Technologien noch bevor:
a) Verbot, Taschenrechner ist Tool das hilfreich ist und mühsames Ausrechnen überflüssig werden lässt. Lösungsweg muss auch zählen, dadurch ist die Frage nach dem Rechner obsolet. No need to do so.
-- WikiGuest - 07 Dec 2022 -- WikiGuest - 08 Jan 2023 Zum Kommentieren ist eine Registration notwendig.Die wachsende Bedeutung der digitalen Transformation für die Bildung aber auch die Corona-Pandemie führen dazu, dass in meiner Wahrnehmung derzeit wieder vermehrt Evaluationen der Nutzung digitaler Medien in der Schule durchgeführt werden. In den meisten Fällen werden dazu Fragebogen für Schüler:innen und Lehrpersonen zu deren Selbsteinschätzung von digitaler Kompetenz und Nutzung digitaler Medien zu Lehr- und Lernzwecken verwendet.
In jüngerer Vergangenheit sind mir dabei mehrere Fälle begegnet, bei denen in meiner Einschätzung veraltete Fragen und/oder Skalen verwendet worden sind. Zwei Beispiele.
Die Verwendung eines über 10 Jahre alten Erhebungsinstruments zur Selbsteinschätzung der IT-Infrastruktur ist für mich hoch problematisch, da die IT-Infrastruktur zu denjenigen Aspekten der digitalen Transformation gehört, die sich rasch entwickeln. Konkret: Während dieses Instrument im Jahr 2010 eventuell die damals wünschenswerte Vielfalt abbilden konnte, passt es nicht mehr zur heutigen Zeit. Wer verwendet heute noch «Aufnahmegeräte» (gemeint sind vermutlich Diktiergeräte) mit Schülerinnen und Schülern deren Audiodateien zur Weiterverarbeitung danach mühsam mit Kabel oder Speicherkarten auf moderne Geräte (Tablets, Smartphones) übertragen werden sollten (die weder über die dafür notwendigen Speicherkartenleser oder Kabelanschlüsse verfügen), wenn leistungsfähige Tablets und Smartphones zur Verfügung stehen? Im Extremfall einer Schule mit einer 1:1-Tablet-Ausstattung kann das Erhebungsinstrument von Breiter et al. von 2010 den Wert 0 ergeben, da die Schule weder über Computerräume, Computer- oder Tablet-Klassensätze noch über analoge oder digitale Kameras, Diktiergeräte oder interaktive Whiteboards verfügt.
Egal was und mit welchen statistischen Methoden mit einem auf dies Art und Weise erhobenen Wert gerechnet und letztendlich geschlussfolgert wird: Es ist problematisch – oder wie Informatiker:innen sagen würden: GIGO: Garbage in – Garbage out. Es hilft übrigens nichts, wenn in solchen Fällen errechnet und geschlussfolgert wird, dass die IT-Ausstattung keinen Einfluss auf andere untersuchte Variablen habe und damit der IT-Ausstattung eigentlich keine grosse Bedeutung zukomme. Auch diese Aussage steht auf sehr wackligen Füssen.Betrachtet man die zur Verfügung gestellte Antwortskala dieser Frage, so fällt auf, dass sie weder vollständig noch ausbalanciert ist. So ist es zwar möglich, mit «nie» zu antworten, nicht aber mit «jede Unterrichtsstunde». Mehrere Lehrpersonen haben sich bei mir gemeldet, dass sie diese Fragen teilweise gar nicht wahrheitsgemäss ausfüllen könnten...
Gaslaternen-Forschung hat für mich zwei Probleme. Das offensichtliche – Garbage in / Garbage Out – habe ich bereits angesprochen. Es ist frustrierend zu sehen, wie oft mit viel Statistik versucht wird, aus veralteten Erhebungsinstrumenten valide Erkenntnisse zu gewinnen.
Auf einer Meta-Ebene ist für mich Gaslaternenforschung aber auch über das konkrete Forschungsvorhaben problematisch, weil sie meiner Meinung nach das Vertrauen in entsprechende Forschung untergräbt. Wer aufgefordert wird, Fragebogen mit solch veralteten Auswahlmöglichkeiten zu beantworten, verliert das Vertrauen in die Aussagekraft entsprechender Forschungsergebnisse und wird deshalb künftig (noch) weniger (oder nicht mit der notwendigen Ernsthaftigkeit) an entsprechenden Befragungen teilnehmen