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Gedanken zu Programmierumgebungen für "Medien und Informatik"

19 May 2016 - Version 4

In den deutschsprachigen Kantonen und Pädagogischen Hochschulen laufen derzeit die Vorbereitungen zur Einführung des Lehrplans 21 (Biblionetz:w02172) auf Hochtouren, insbesondere auch für das neue Modul "Medien und Informatik". Eine nicht zentrale, aber trotzdem nicht ganz unwichtige Frage ist die nach Programmierumgebungen.

Als Diskussionsbasis in verschiedenen Kontexten habe ich mich mal hingesetzt und meine diesbezüglichen Überlegungen etwas strukturiert. Es handelt sich somit um eine Konkretisierung der allgemeinen Frage Welche Programmiersprache eignet sich für die Schule? (Biblionetz:f156) auf die aktuelle Situation in der Schweiz und dem bevorstehenden Lehrplan 21.

(direkt kommentiert werden kann dieser Text drüber bei Google Docs)

1. Worum geht es?

In den deutschsprachigen Kantonen der Schweiz wird in den kommenden Jahren der Lehrplan 21 eingeführt werden. Der darin enthaltene Modullehrplan Medien und Informatik (Biblionetz:t17600) enthält ab der 5. Klasse Kompetenzbeschreibungen, die mit einer Programmierumgebung erworben werden müssen.

Der Lehrplan 21 macht keine Aussagen oder Empfehlungen zu konkreten Programmierumgebungen. Somit stellt sich die Frage, ob jede Lehrperson sich selbst eine oder mehrere Programmierumgebungen auswählen soll oder ob übergeordnete Stellen (Schulen, Gemeinde, PHs, Kantone) Empfehlungen oder Vorgaben machen sollen.

Informatik ist nicht gleich Programmieren: Programmieren ist eine wichtige Arbeitsweise in der Informatik, aber nicht mit ihr gleichzusetzen. Die nachfolgenden Überlegungen sind somit nicht dazu gedacht, alle Kompetenzbeschreibungen im Kompetenzbereich Informatik des Modullehrplans Medien und Informatik abzudecken.

2. Wie sieht die Ausgangslage aus?

  • Benötigt wird eine Programmierumgebung für die 5./6. Klasse Primarschule und die Sekundarstufe I (7.-9. Klasse): Das Modul "Medien und Informatik" enthält ab der 5. Klasse Kompetenzbeschreibungen, welche den Einsatz einer Programmierumgebung erfordern.

  • Allgemein- und nicht Berufsbildung: Ziel des Modullehrplans "Medien und und Informatik" ist die Vermittlung grundlegender Konzepte, nicht die Schulung einer bestimmten Programmiersprache.

  • In der 5./6. Klasse keine Fachlehrpersonen: In den wenigsten Fällen wird "Medien und Informatik" auf der Primarschulstufe durch eine Fachlehrperson erteilt werden.

  • Derzeit wenig bis kein Informatikvorwissen bei den Lehrpersonen: Die wenigsten Lehrpersonen in der Volksschule verfügen aktuell über Informatikkompetenzen.

  • Beschränkte Ressourcen zur Weiterbildung von Lehrpersonen, die "Medien und Informatik" unterrichten werden: Aufgrund der hohen zeitlichen Belastung von Lehrpersonen und der angespannten Finanzlage werden Lehrpersonen vermutlich meist nicht sehr umfangreich für das Erteilen von "Medien und Informatik" weitergebildet werden können.

  • Derzeit wenig kohärentes, zum Modullehrplan "Medien und Informatik" passendes Unterrichtsmaterial: Informatik in der Volksschule, insbesondere in der Primarschule ist ein relativ neues Thema im deutschsprachigen Raum. Da die Verbindung von Medien und Informatik in einem gemeinsamen Modullehrplan bisher einzigartig ist, fehlen entsprechendes Unterrichtsmaterial oder gar Lehrmittel weitgehend.

  • Heterogene Infrastrukturvoraussetzungen in den Schulen: Schweizer Volksschulen sind je nach Kanton und Gemeinde sehr unterschiedlich mit Computern ausgestattet. Sowohl bezüglich Gerätetypen (Desktops, Notebooks, Tablets) als auch bezüglich Betriebssystemen (Windows, Mac, Linux, Android, iOS, ChromeOS) besteht eine grosse Heterogenität.

3. Warum braucht es Empfehlungen?

  • Weil die meisten Lehrpersonen bisher über wenig Informatik-Kompetenzen verfügen, wären sie mit der Auswahl selbst überfordert.

  • Weil bisher wenig stufenspezifisches Unterrichtsmaterial existiert, fördern konkrete Umgebungsempfehlungen die Nutzbarkeit des zu entwickelnden Materials.

4. Eine oder mehrere Umgebungen?

Ziel des Modullehrplans "Medien und Informatik" ist nicht das Erlernen einer konkreten Programmiersprache, sondern die Vermittlung grundlegender Konzepte der Informatik. Dazu gehören auch Konzepte der Programmierung. Insofern wäre es wünschenswert, wenn Schülerinnen und Schüler unterschiedliche Programmierumgebungen kennen lernen würden um zu erfahren, dass mit verschiedenen Sprachen programmiert werden kann und welche Konzepte bei vielen Programmiersprachen ähnlich sind.

Angesichts der geringen Stundendotation (kantonal unterschiedlich geregelt, jedoch höchstens 19 Jahreslektionen während vier Jahren ab der 5. Klasse) ist jedoch die Einführung mehrerer Programmierumgebungen innerhalb der obligatorischen Unterrichtszeit nicht realistisch. Aus diesem Grund empfiehlt es sich, pro Schulstufe (5./6. Klasse sowie Sekundarstufe I) primär auf eine Programmierumgebung zu setzen.

Ähnliche Überlegungen gelten auch bei der Frage, ob auf der Primarschulstufe die gleiche Programmierumgebung wie auf der Sekundarstufe I verwendet werden soll. Vermutlich ist es angesichts der geringen Stundendotation sinnvoll, auf der Sekundarstufe die bereits in der 5./6. Klasse verwendete Programmierumgebung aufzubauen.

5. Was sind die Anforderungen an eine Programmierumgebung für das Modul Medien und Informatik?

  • Motivierend: Informatik ist ein für die Volksschule neues Thema, das ausserhalb der Schule mit einem Imageproblem kämpft (nerdig, schwierig, langweilig). Eine im Modul "Medien und Informatik" eingesetzte Programmierumgebung sollte diesen Eindruck korrigieren und sowohl im Unterricht Spass machen als auch Schülerinnen und Schüler motivieren, sich ausserhalb des Unterrichts mit ihr zu beschäftigen.

  • Leichter Einstieg: Angesichts des Alters der Schülerinnen und Schüler sowie des Wissensstands der Lehrpersonen ist ein leichter Einstieg mit raschen Ergebnissen innert kurzer Zeit wichtig.

  • Vielseitig verwendbar:Da in den meisten Fällen wie oben beschrieben im Wesentlichen nur eine Programmierumgebung zum Einsatz kommen wird, sollte diese möglichst vielseitig verwendbar sein.
    • Sprachumfang/Ausrichtung: Die Programmiersprache sollte möglichst verschiedenartige Programmierprojekte ermöglichen. Dies schliesst explizit auch Projekte in anderen Fächern mit ein.
    • Technische Verfügbarkeit: Die Programmierumgebung sollte auf möglichst vielen Geräten und Betriebssystemen einsetzbar sein.
    • Lizenzrechtliche Verfügbarkeit: Damit Schülerinnen und Schüler Hausaufgaben erledigen und bei Interesse private Projekt verfolgen können, sollte die Programmierumgebung auch zu Hause legal nutzbar sein (kostenlos oder durch die Schule lizenziert).

  • Längerfristig verfügbar: Um die Investitionen in die Erarbeitung von Unterrichtsmaterial und die Schulung von Lehrpersonen zu sichern, sollte die längerfristige Verfübarkeit der Programmierumgebung gesichert oder mindestens wahrscheinlich sein.

  • Mächtig: Die Programmierumgebung sollte zwar für den Einstieg möglichst einfach sein, aber zur Vertiefung und für besonders Interessierte nicht zu stark einschränken, sondern auch komplexere Projekte ermöglichen.

  • Enaktiv: Sowohl zur Motivation, zur Förderung der vielseitigen Verwendbarkeit und auch zur altersgerechten Konkretisierung abstrakter Konzepte insbesondere in der Primarschule sollte die Programmierumgebung die einfache Einbindung von Sensoren und Aktoren erlauben. Damit werden (auch fächerübregreifende) spannende Projekte möglich (Robotik, Spiele, Experimente).

5.1 Didaktisierte oder professionell genutzte Sprache?

Bei Programmierumgebungen lassen sich derzeit zwei Arten unterscheiden: Einerseits Umgebungen für die professionelle Entwicklung von Programmen, andererseits didaktisch gestaltete Umgebungen für Lehr- und Lernzwecke.

Professionell genutzte Sprachen sind ab einem gewissen Alter der Schülerinnen und Schüler motivierender. Angesichts des geringen Vorwissens und der geringen Stundendotation ist jedoch eine didaktisierte Sprache vorzuziehen.

Idealerweise lässt sich eine didaktisierte Programmierumgebung finden, mit der sich auch möglichst alltagsnahe Projekte realisieren lassen.

5.2 Textbasierte Sprache oder Blocksprache?

Professionelle Anwendungsentwicklung geschieht derzeit zumeist mit textbasierten Programmiersprachen. Insbesondere für Lehr- und Lernzwecke wurden blockbasierte Programmierumgebungen entwickelt, die Syntaxfehler verunmöglichen und die Programmstruktur auch zu einem gewissen Grad visualiseren.

Blockbasierte Sprachen haben oft mit dem Vorwurf zu kämpfen, sie entsprächen nicht dem "echten" Progammieren und werden deshalb häufig nur als Vorstufe zur Verwendung einer "ernsthaften" Programmiersprache betrachtet.

Auch sonst unterscheiden sich textbasierte und blockbasierte Programmierungebungen in didaktischer Hinsicht:

Blockbasierte Programmierumgebungen arbeiten meist mit Paletten aller verfügbarer Befehle der Sprache. Dies erlaubt einerseits ein exploratives Entdecken der Möglichkeiten einer Programmiersprache, kann aber zu Beginn auch abschreckend oder ablenkend wirken. In textbasierten Sprachen fehlt meist eine sofort sichtbare Liste aller verfügbarer Befehle, so dass Schülerinnen und Schüler nur die wenigen Befehle kennen und nutzen, die ihnen bereits erklärt worden sind.

Um das entdeckende Lernen im und vorallem auch ausserhalb des Unterrichts zu fördern, wird für das Modul "Medien und Informatik" eine blockbasierte Programmierumgebung empfohlen.

Bereits jetzt sind erste Umgebungen verfügbar, in denen sich textuelle und grafische Befehle mischen und ineinander umwandeln lassen. Es ist zu erwarten, dass diese Entwicklung bei didaktisierten Programmierumgebungen weitergehen wird.

6. Empfehlung: Scratch & scratchkompatible Sprachen

6.1 Was ist Scratch?

Scratch (http://scratch.mit.edu) ist eine am MIT spezifisch für Kinder und Jugendliche entwickelte, kostenlos verfügbare blockbasierte/grafische/visuelle Programmierumgebung. Die erstmals 2007 veröffentliche Programmierungebeung setzt die von LOGO, Karel etc. ausgehende Tradition von auf dem Aktorprinzip beruhenden Lernumgebungen für den Einstieg ins Programmieren fort.

Scratch stellt nicht die Programmierung als Lerngegenstand, sondern das kreative und soziale Konstruieren von algorithmisch gesteuerten Artefakten ins Zentrum:
  • Multimedial: Direkt in der Entwicklungsumgebung integriert lassen sich Bilder importieren, erstellen und bearbeiten sowie Töne importieren, aufnehmen und bearbeiten.
  • Sozial: Teil der Programmierumgebung ist die Plattform ScratchR, auf der Programmierprojekte publiziert und weiterentwickelt werden können.

Verfügbarkeit und Kompatibilität:
  • Scratch Version 1.4 ist als Download für Windows, Mac OS und Linux verfügbar.
  • Scratch-Version 2.0 läuft in jedem Browser, der Flash ausführen kann.
  • Im Mai 2016 wurde Scratch 3.0 angekündigt, das in jedem Browser mit Javascript-Unterstützung laufen und auf die Nutzung mit mobilen Geräten ausgerichtet sein soll.

6.2 Warum Scratch?

  • Leichter Einstieg: Die blockbasierte Programmierung, zahlreiche Tutorials, Beispiele direkt in der Entwicklungsumgebung, einstellbare Sprache für Umgebung und Programmbefehle erleichtern den Einstieg.

  • Vielseitige Verwendbarkeit: Scratch lässt sich dank integrierter Audio- und Bildbearbeitung für multimediale Projekte und zur Entwicklung einfacher Spiele und dank zahlreicher kompatibler Hardware auch zum Messen und Steuern in der realen Welt nutzen. Damit ist Scratch in vielen Fächern und Themengebieten einsetzbar.

  • Breite, kostenlose Verfügbarkeit: Scratch ist frei verfügbar, auf den meisten Betriebssystemen lauffähig und es stehen web-basierte Programmierumgebungen zur Verfügung, so dass keine client-seitigen Software-Installationen und Konfigurationen nötig sind. Mit der angekündigten Version 3 wird auch kein Flash-Player mehr notwendig sein.

  • Langfristige Verfügbarkeit: Die Entwicklung am MIT, die erfolgte Gründung einer Stiftung und die grosse Verbreitung der Sprache dürften dazu führen, dass sie relativ lange verfügbar bleiben dürfte.

  • Mächtigkeit: Trotz ihrer kindlichen Erscheinungsweise lassen sich mit Scratch alle im Lehrplan 21 vorgesehenen Kompetenzen im Bereich der Programmierung vermitteln. Die mit Scratch verwandte Programmierumgebung Snap! wird sogar in Hochschulinformatik-Lehrveranstaltungen verwendet.

  • Enaktivität: Die zahlreich verfügbaren scratch-kompatiblen Hardware-Erweiterungen ermöglichen stark enaktive Projekte und Herangehensweisen.

  • Motivierend: Durch die multimedialen Möglichkeiten, die vielen bereits vorhandenen Projekte auf der Plattform, die vielseitige Verwendbarkeit, die zahlreichen kompatiblen Hardwareerweiterungen ist Scratch sehr motivierend.

Ich bin interessierte an Rückmeldungen und Kommentaren, am einfachsten direkt im Text in Google Docs

Interessante Ausführungen - auch ich sehe Scratch als eine tolle ikonische Programmierumgebung mit wenigen Zugangsbarrieren dar. Allerdings gibt es in meinem Augen einen Nachteil - die Objektorientierung tritt etwas stark in den Hintergrund. Ich gehe daher beim Unterrichten den Weg → Objects first (Einführung der Objektorientierung anhand von Vektorgrafiken) → Programm ObjectDraw - Grenze - Methoden müssen in die Befehlszeile einzeln eingegeben und mit Enter bestätigt werden → Lösung EOS (Einfache Objektorientierte Sprache) - es lassen sich Befehle → Programm! Sus initalisieren einige Objekte (Rad1,Rad2,Autoteile…), belegen Attributwerte und bewegen Sie über Methoden → Wechsel zu Scratch um nun den Focus aus Programmstukturen zu legen und ein v.a. optisch sehr tolles Ergebnis zu erzielen! Ich weiß der Wechsel v.a. zu EOS kostet 1-2 Doppelstunden, aber dafür sehen die Schüler auch das die echte Welt der Informatik mit viel Aufwand verbunden ist und uns der Fortschritt zum Glück einiges davon abnimmt. Wie sehen Sie das Problem - die Objektorientierung mehr zu betonen?

-- TobiasH - 21 May 2016

 
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Learnify - ein erster Eindruck

22 May 2015 - Version 2

Seit kurzem ist die schwedische Lernplattform Learnify in einer Beta-Version auch in der Schweiz verfügbar. Ich habe mich etwas umgesehen und versucht, mir einen ersten Eindruck zu verschaffen.

learnify-01.jpg
Ja, Learnify ist auch physisch in der Schweiz angekommen und hat sogar ein Klingelschild ;-)

Was ist/kann Learnify?

Selbst beschreibt sich Learnify folgendermassen:

Learnify wurde zusammen mit Schwedischen Schulen über einen Zeitraum von 10 Jahren kontinuierlich weiterentwickelt. Zur Zeit arbeiten in Schulen rund um Stockholm über 100’000 SchülerInnen und Lehrpersonen mit dieser Plattform. Learnify ermöglicht als digitaler Hub den Unterricht mit den Vorteilen des Internets und dem Computer zu kombinieren. Die Grundfunktionen von Wikipedia, Facebook, WordPress und die Metastruktur der Khan Academy wurden gebündelt und für den Schulbereich adaptiert.

In meiner Wahrnehmung ist Learnify eine Mischung aus Lernplattform und Authoring Tool, die den Fokus auf den Austausch von Unterrichtsmaterial setzt, den Lehrpersonen mit Hilfe von Material aus dem Internet erstellen. Zu diesem Zweck gibt es eine nach Lehrplanzielen strukturierte Ressourcen-Bibliothek aus der sich Lehrpersonen bedienen und in die Lehrpersonen ihre Materialien wieder einspeisen können.

learnify-02.jpg

Eine Lehrperson eröffnet für ihre Lernenden eine sogenannte Lernzone und kann in dieser Lernzone Material zur Verfügung stellen, mit Schülerinnen und Schülern via eine so genannte Wall kommunizieren, einen (internen oder weltweit einsehbaren) Blog betrieben und sich Arbeitsergebnisse abgeben lassen.

USP von Learnify

Mir gefällt die Ausrichtung von Learnify auf das möglichst einfache und offene Erstellen und Austauschen von Unterrichtsmaterial. Dabei erinnert mich Learnify an Plafformen wie blogger.com oder jimdo.com, mit dem Vorteil von Learnify, eine werbefreie, in der Schweiz gehostete Plattform zu sein und gewisse schulspezifische Erweiterungen zu bieten (Struktur Lehrperson - Klasse oder Einreichen und Bestätigen von Arbeitsergebnissen).

Auch die Idee, die Unterrichtsmaterialsammlung gleich in Learning Management System zu integrieren, gefällt mir. Ein Login, eine Oberfläche, das vermindert "digitale Medienbrüche" und könnte die Nutzungshürde für Lehrpersonen senken.

Klar ist es Beta, aber…

Ansonsten ist mein erster Eindruck von Learnify etwas verhalten. Klar, http://learnify.ch ist eine Betaversion, ich werde mich also nicht an fehlenden Übersetzungen oder ähnlichen Details stören (sondern habe solche leicht behebbaren Probleme bereits mehrfach an die Schweizer Betreiber zurück gemeldet). Die kleinen Dinge werden sich relativ rasch lösen lassen.

Es sind eher gewisse grundlegende Design-Entscheidungen, die Learnify aufgrund seiner zehnjährigen Geschichte mit sich trägt, die mir Sorgen im Hinblick auf eine Verbreitung in der Schweiz machen. Die folgenden Punkte sind weniger ein Vorwurf an Learnify, sondern eher die Folge der raschen Entwicklung in diesem Gebiet und der Devise "Das Bessere ist der Feind des Guten".

Modern ist anders

Man merkt Learnify.ch die zehnjährige Geschichte an:

  • Learnify.ch ist derzeit eher auf Notebooks als auf Tablets oder gar Smartphones ausgerichtet. Die Darstellung auf kleineren Bildschirmen ist nicht immer optimal, die entsprechenden Apps sind bisher nur für die schwedische Version von Learnify
verfügbar. Wann werden die Apps lokalisiert sein? Was werden sie können?
Für eine 2015 in der Schweiz neu antretende Plattform aus meiner Sicht eine schwierige Ausgangslage.

  • Learnify erlaubt derzeit kein Co-Editing. Learnify erleichtert das Erstellen von Content. Das ist gut. Aber das können unterdessen viele Plattformen. Learnify erlaubt derzeit kein gleichzeitiges Arbeiten an einer Ressource, was Etherpad, Google Docs, Office 365 und andere Plattformen seit längerem bieten. Auch hier ist Learnify.ch nicht uptodate mit dem, was ausserhalb der schulspezifischen Plattformen heute erwartet wird. (Ich kenne diese Problematik aus eigener Erfahrung. Jahrelang habe ich Wikis propagiert, weil sie zeitversetztes Co-Editing inkl. Versionsverwaltung gebracht haben. Unterdessen genügt dies oft nicht mehr, bzw. das Bessere ist der Feind des Guten: Solange Hyperlinks unwichtig sind, bieten heute Google Docs & Co. mehr Komfort als Wikis.)

Content is King: Solange es wenig Content hat

In meiner Wahrnehmung wird Learnify in Schweden deshalb eingesetzt, weil entsprechender Content verfügbar ist. Einerseits kommerzieller, kostenpflichtiger Content und andererseits usergenerated Content, erstellt durch die Learnify nutzenden Lehrpersonen. Dieser Content fehlt bisher in der Schweiz.

Aus meiner Sicht ist dies ein Knackpunkt der erfolgreichen Verbreitung von Learnify in der Schweiz: Wie kommt Learnify.ch zu Content?

  • Welche öffentlichen/kommerziellen Partner (Fernsehen, Zeitungen, Lehrmittelverlage) sind bereit, ihren Content in Learnify zur Vrefügung zu stellen?
  • Was motiviert Lehrpersonen, ihren Content bei Learnify zu veröffentlichen?
    • Warum sollten sie überhaupt motiviert sein, ihre Unterrichtsmaterialien zu veröffentlichen?
      (Ein uraltes Problem, das bereits http://www.zum.de, http://www.swisseduc.ch etc. kennen und zum Grundproblem von user generated content in der Schule gehört).
    • Was macht Learnify hier attraktiver als bisherige Publikationsmöglichkeiten? Warum bei Learnify veröffentlichen und nicht sonst auf dem Netz?
    • Hier sehe ich eine Chance von Learnify: Erstellung, Nutzung und Freigabe erfolgen alle auf der gleichen Plattform, das könnte die Hürde senken, Material zuerst für die eigene Klasse zu nutzen und danach freizugeben.

Hier stellt sich ein gewisses Huhn-Ei- oder Bootstrap-Problem: Warum sollte jemand auf einer leeren, bisher nicht genutzten Plattform sein Material zur Verfügung stellen bzw. in dieser Plattform erarbeiten? Ich sehe zwei Massnahmen, um diese Huhn-Ei-Problematik zu entschärfen:

  • Initialcontent: Es braucht bereits zu Beginn Content, welcher die Nutzung von Learnify attraktiv macht. Warum sollte ich als Lehrperson den Einarbeitungsaufwand leisten, um Yet another CMS nutzen zu können?

  • Exportmöglichkeit für das eigene Material: Learnify.ch bietet derzeit keine Exportmöglichkeit für erstellte Materialien, als AutorIn habe ich somit wenig Möglichkeiten, meine Arbeit aus Learnify zu "retten", sollte ich aus irgendwelchen Gründen Learnify irgendwann mal verlassen wollen. Ich liefere mich somit dem zukünftigen Schicksal von Learnify.ch aus.
Für die Nutzung der Plattform ist das eine Sache, für die Entwicklung von Material eine ganz andere.

Content is King: Sollte es mal viel Content haben

Ich mache mir aber beim derzeitigen Stand von Learnify.ch auch Sorgen, wenn es mal viel Content haben sollte:

  • Learnify.ch fehlen derzeit die sonst im Contentbereich gängigen sozialen Funktionen zur Erfassung persönlicher Präferenzen. Bei Amazon, Youtube etc. ist man sich unterdessen gewöhnt, dass einem ähnlicher Content angeboten wird, dass man Content raten und entsprechend sortieren kann. Ich kann Content-Autoren bzw. deren Kanäle abonnieren oder im Gegenteil auch ignorieren etc.
    In Learnify.ch ist davon bisher nicht viel zu sehen. Bisher scheine ich als Lehrperson nicht mal Learnify.ch mitteilen zu können, auf welcher Stufe ich arbeite und welche Fächer/Themen ich unterrichte. Solange ich das nicht kann, macht auch die nicht verfügbare Funktion Neue Ressourcen anzeigen wenig Sinn.

  • Learnify fehlt eine Verlags/Lektoren/Prüffunktion und setzt komplett auf Selbstevaluation der Community. Bei viel Content würde ich mir wünschen, dass ich einen Filter nur geprüfte Materialien anwählen könnte.

  • Wer übernimmt urheberrechtliche Prüfungen? Bei einer schweizweiten Plattform darf nicht mehr alles einfach so verwendet werden, nur weil es sich um Schule handelt. Gibt es hier bereits Überlegungen dazu, wie eingestellte Inhalte dahingehend geprüft werden können, um nicht den Zorn der Urheberrechteinhaber auf sich zu ziehen und damit die Zukunft der Plattform zu gefährden?

  • Learnify.ch fehlt eine Versionsverwaltung. Ich würde mir wünschen, dass Learnify mit Versionen von Material umgehen könnte. Wenn ich eine Kopie einer Ressource erstelle, so würde ich mir wünschen, dass der ursprüngliche Ersteller der Ressource darüber informiert wird. Umgekehrt wüsste ich dann gerne, wenn nach einem Jahr die ursprüngliche Ressource überarbeitet wird. (Die Programmierplattform ScratchR geht in diese Richtung).

Erstes Fazit

Derzeit würde ich early-adopter-Lehrpersonen empfehlen, mit Learnify zu experimentieren. Wer selbst schon mit blogger.com oder jimdo.com eigene Seiten für Schülerinnen und Schüler gemacht hat, wird sich in Learnify rasch zurechtfinden und Vor- und Nachteile entdecken und abschätzen können.

Für ganze Schulen sehe ich aber zwei Probleme:

  • Das Bewährte ist der Feind des Neuen: Bietet Learnify.ch wirklich den erforderlichen Mehrwert, dass ich die Plattform als Institution mit allen Konsequenzen (Schulung, Support etc.) einführen will? Oder sind zwar educanet2, moodle etc. etwas altbackener, aber bereits in der Schweiz eingeführt und bewährt?

  • Das Neuere ist der Feind des Nicht-so-ganz-Neuen: Lohnt sich das Einlassen auf die schulspezifische Plattform Learnify oder soll eine Schule nicht besser eine cloudbasierte Office-Lösung von Google, Microsoft oder Apple für ihre Zwecke adaptieren? Diese Plattformen sind alle top up-to-date was ihre Nutzung auf allen möglichen Geräten von Desktops bis praktisch Smartwatches anbelangt, synchronisieren alle Inhalte, sind offline nutzbar und bieten auch gleichzeitiges Editieren etc. an. Der Einarbeitungsaufwand in eine solche Lösung ist nicht nur im Schulkontext nutzbar sondern auch auserhalb und darüber hinaus, die Zukunft dieser Plattformen ist gesicherter als diejenige von Learnify, ich kann exportieren etc. Man verzichtet auf schulspezifische Funktionen, hat dafür aber die modernste und vermutlich zukunftssicherste Lösung...
    Ja ich kenne die notwendigen Bedenken bezüglich kommerzieller Plattformen im staatlichen allgemeinbildenden Unterricht inkl. Datenschutz etc. Aber genau das muss diskutiert und abgewogen werden.

So, das wärs fürs Erste. Nun bin ich gespannt, wie sich Learnify.ch in der Schweiz weiter entwickelt.

P.S.: Zur organisatorischen Einbettung und zur längerfristigen Finanzierung will Learnify.ch bis Mitte nächster Woche weitere Informationen publizieren, so dass ich diesen Aspekt in diesem Posting nicht berücksichtigt habe.


cv

-- BennoKoehler - 11 May 2016

Hallo,

der Blick auf Learnify hat mir sehr gut gefallen, da hier viele Aspekte berücksichtigt sind, die bei der Wahl einer Lernplattform zu beachten sind. Nun suche ich als Autor von interaktiven Chemienanwendungen (123Chemie) eine passende Plattform für meinen Content…

-- BennoKoehler - 11 May 2016

 
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Zum Welttag des Buches ;=)

23 April 2016 - Version 1

Vorsicht Werbung!

Der heutige 23. April ist der Welttag des Buches. Wikipedia meint dazu: "Das Datum des 23. April geht zurück auf den Georgstag. Es bezieht sich auf die katalanische Tradition, zum Namenstag des Volksheiligen St. Georg Rosen und Bücher zu verschenken."

Das finde ich eine gute Idee und ich hätte auch gleich zwei Vorschläge für Leserinnen und Leser dieses Weblogs wink

zusammen1.png zusammen2.png

Mehr als 0 und 1 (Biblionetz:b06000) und Digitale Kompetenz (Biblionetz:b06006) sind nämlich zwei Bücher, die sich nicht primär an Personen richten, die sich bereits in digitalen Informationsquellen zu digitalen Themen wie dieser hier tummeln. Beide Bücher richten sich an Leserinnen und Leser im Bildungswesen, die sich primär an Gedrucktem orientieren und sich bisher nicht vertieft mit dem Digitalen in der Bildung beschäftigt haben - dies aber eigentlich in ihrer Funktion als Mitglieder von Schulleitungen und Schulräten oder als Mitarbeitende in Bildungsbehörden tun sollten.

Beide Bücher versuchen möglichst knapp und einfach verständlich einen Überblick zu den Herausforderungen der Digitalisierung im Bildungswesen zu geben - ohne aktuelle Hypes oder ausufernde Detailbeschreibungen. Damit sind beide Bücher je in einem Wochenende oder in einer Urlaubswoche lesbar und regen zum Nachdenken an, was im eigenen Bildungsumfeld vielleicht geschehen sollte.

Klar, ich will Leserinnen und Leser dieses Weblogs keinesfalls von der Lektüre dieser beiden Bücher abhalten. Sie finden darin strukturierte Zusammenfassungen von vielem, was sie bereits wissen. Dies hilft in Diskussionen und beim Verfassen eigener Text oder planen eigener Aktionen. Aus meiner Sicht könnte der wahre Wert dieser beiden Bücher aber darin liegen, sie der oben beschriebenen Zielgruppe ans Herz zu legen oder eben gerade zu schenken: "Wenn du wissen willst, warum ich immer von dieser Digitalisierung rede, dann lies doch mal das hier!"

Don't preach to the converted: Wir bringen die Schule nicht weiter, wenn wir uns gegenseitig von der Wichtigkeit des Themas zu überzeugen versuchen. Wir sind es ja bereits. Darum: Wer im eigenen Bekanntenkreis müsste sich eigentlich mit dem Thema beschäftigen und wäre vielleicht sogar froh, das Wesentliche zwischen zwei Buchdeckeln zu erhalten, statt dieser Informationsflut des Internets ausgesetzt zu sein? wink

Darum zum Welttag des Buches: Verschenken Sie diese beiden Bücher an jemanden in ihrem Bekanntenkreis!

P.S: Auch ich habe mir zum Welttag des Buches eines gekauft:

wasfehlt.jpg
Daniel Häni & Philip Kovce (2106) Was fehlt, wenn alles da ist? Warum das bedingungslose Grundeinkommen die richtigen Fragen stellt (Biblionetz:b06209)

 
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Wir haben 2016, nicht 1984

04 April 2016 - Version 2

Ich bin grad leicht schockiert und weiss eigentlich gar noch nicht wo anfangen mit reagieren. Titelstory in der heutigen Sonntagszeitung sind die 21'000 in der Schweiz vorhandenen staatlichen Überwachungskameras. Auf einer Doppelseite wird über die Zunahme an Kameras, aber auch über die Zweifel an der Wirksamkeit und die mit den Kameras verbundenen Gefahren berichtet.

t18592.png

In einem Kommentar meldet sich der Redaktionsleiter unter dem Titel Wir haben 2016, nicht «1984» (Biblionetz:t18593) zu Wort.

Was ich da lese, scheint mir an Naivität nicht zu überbieten:

Denn tatsächlich haben die heutigen Überwachungsmassnahmen nichts mit Orwells Schreckensvision gemein. Wenn der Staat im öffentlichen Raum Kameras aufstellt, tut er dies nicht wie in «1984» um seiner selbst willen – sondern um die Bürger zu beschützen: vor Terroristen, Räubern, Pädophilen oder Hooligans.

Wie praktisch und effizient das Vorgehen ist, zeigen die vielen Fahndungserfolge: Die Schläger von Kreuzlingen, der Kinderschänder in Zürich oder auch die Attentäter von Boston – sie alle wurden gefasst, weil sie gefilmt worden waren. Kein Wunder, ist die Akzeptanz in der Bevölkerung gross. Eine deutliche Mehrheit befürwortet den Einsatz von Überwachungskameras mit der einleuchtenden Begründung, dass nur Kriminelle davor etwas zu befürchten hätten. Und dass die Daten ohnehin nur mit richterlicher Befugnis verwendet werden dürfen.

Ein anderes Resultat hätte im Zeitalter von Facebook auch überrascht. Wer Fotos und intimste Details aus seinem Privatleben freiwillig online stellt, kann nicht ernsthaft dagegen sein, beim Einkaufen gefilmt zu werden. Und wer einer privaten US-Firma vertraut – bei der niemand weiss, was sie mit den gesammelten Daten anstellt –, darf sich auch vor dem Schweizer Staat nicht fürchten.

Wir haben tatsächlich nicht 1984, sondern 2016. Die Schweiz hatte ihren Fichenskandal und 2013 gab es die NSA-Enthüllungen von Edward Snowden (Biblionetz:p13594). Wie kann man da noch ernsthaft behaupten, heutige Überwachung geschehe nur um die Bürger zu beschützen und die Daten würden nur mit richterlicher Befugnis verwendet? Als wüssten wir nicht besser, dass Daten aufgrund von technischen Pannen oder politischen Intrigen des öftern in falsche Hände geraten.

Wie kann man so unhinterfragt behaupten, es sei unbedenklich alle ungefragt dauernd zu überwachen, weil sich die meisten sowieso freiwillig in sozialen Netzen entblössen würden (Biblionetz:a01270) und wer nichts zu verbergen hätte, der hätte auch nichts zu berfürchten? (Biblionetz:a00840)

Gipfel der Naivität ist jedoch der Schluss des Meinungsartikels, in welchem Kunz empfiehlt, Orwells Roman 1984 (Biblionetz:b00221) nicht mehr in der Schule zu lesen:

Sinnvoller wäre die Forderung, «1984» als Lektüre an den Schulen abzuschaffen. Das Buch, erschienen 1949, war eine Anspielung auf den Überwachungswahnsinn in den mittlerweile längst implodierten kommunistischen Diktaturen. Wer Orwell heute noch anführt und laut «Big Brother» schreit, sobald irgendwo eine Kamera aufgestellt wird, hat das Buch nicht verstanden und verunglimpft die erfolgreichen Bemühungen demokratischer Staaten zum Schutze seiner Bürger.

Im Gegenteil ist es höchst dringlich und gehört zur Allgemeinbildung in einer digitalisierten Welt, die technischen Möglichkeiten und die gesellschaftlichen Konsequenzen einer immer stärkeren Überwachung aller Lebensbereiche zu diskutieren, damit man dem Thema nicht derart naiv gegenübertritt wie dieser Artikel in der heutigen Sonntagzeitung!

Erste Reaktionen im Netz:

 
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Könnte das #PflichtfachInformatik mal bitte in die Marketing-Abteilung kommen?

31 March 2016 - Version 2

Gewisse Dinge haben nicht in einem Tweet Platz. Sorry.

Seit vor einigen Wochen das Dagstuhl-Dreieck (Biblionetz:w02886) erarbeitet und publiziert worden ist, habe ich online und offline zahlreiche Diskussionen geführt und wurde oft mit dem Schlagwort #PflichtfachInformatik konfrontiert. Obwohl ich die dahinter stehende Forderung nach mehr verbindlichen Informatikinhalten in der Schule vorbehaltslos unterstütze (was mache ich denn die letzten Jahre anderes?), ist die Forderung #PflichtfachInformatik aus meiner Sicht bildungspolitisch aus mehreren Gründen problematisch.

Nochmals, bevor ich mit den Gründen anfange in aller Deutlichkeit: Es geht mir um die Begrifflichkeit, nicht um den Inhalt der Forderung.

Vorüberlegung: "C'est le ton qui fait la musique"

Die Forderung #PflichtfachInformatik möchte Informatik für alle in der Schule verbindlich machen. Es geht also nicht um einzelne Interessierte, sondern um alle. Damit eine solche Forderung eine Chance hat, muss sie mehrheitsfähig sein, insbesondere in einem föderalistischen, demokratischen Bildungssystem. Es muss also gelingen, die Mehrheit der Entscheidungsträger/innen zu überzeugen. Somit ist es geschickt, seine Forderung so zu formulieren, dass sie zwar stark und verbindlich im Inhalt ist, aber niemanden unnötig ärgert, abstösst oder sonstwie zu Widerstand anstachelt. Würden wir einen Computer programmieren, wäre es egal, wie man den entsprechenden Befehl nennen würde. Wir versuchen aber, Menschen zu überzeugen. Da spielt die Wortwahl eine grosse Rolle, denn Begriffe haben Konnotationen und eine Geschichte. Darum ist es wichtig, gemäss der gesellschaftlich-kulturellen Perspektive (Biblionetz:w02889) des Dagstuhl-Dreiecks zu fragen: Wie wirkt das?

Und #PflichtfachInformatik hat ungewollte Nebenwirkungen.

Pflicht

Pflicht ist das absolute Gegenteil eines motivierenden Begriffs. Defizitorientierter geht nicht. Pflicht ist nur, was sonst niemand freiwillig machen würde. Setzt man den Begriff Pflicht vor irgendetwas beliebig anderes, so zuckt man beim Lesen oder Hören unvermittelt zusammen und fragt sich unbewusst: "Wozu will man mich überzeugen, was ich eigentlich nicht will?" Versuchen Sie es mal mit "Pflicht-Urlaub", "Pflicht-Geschenk" oder "Pflicht-Eis". Würden sie das wollen? Eben.

Pflicht klingt auch sehr nach Fremdbestimmung. Jemand kontrolliert, dass die Pflicht eingehalten wird. Macht das gute Gefühle? Wollen wir das bewusste oder unbewusste Bild einer fremdbestimmten Schule evozieren?

Natürlich wird niemand argumentieren, er sei gegen die Forderung, weil der Begriff "Pflicht" drin vorkommt. Aber unterbewusst spielt das durchaus eine Rolle und löst etwas aus. Und das muss ja nicht sein. "Verbindlich" ist ähnlich bindend wie "Pflicht", aber es hat eine andere Konnotation.

Vergeben wir uns etwas, wenn wir von verbindlich statt von Pflicht sprechen?

Fach

Fach ist neben Noten in der traditionellen Schule die Methode, um Verbindlichkeit für ein Thema zu garantieren. Es wird ein Fach gefordert, weil dann niemand mehr am Thema vorbeikommt. Die Forderung nach einem Fach hat jedoch in ihrer Allgemeinheit auch problematische Aspekte:

  • Auf gewissen Schulstufen sind Fächer wichtiger und zahlreicher als auf anderen Schulstufen. Das Gymnasium ist komplett nach Fächern und Fachlehrern organisiert, Kindergarten und Grundschule deutlich weniger. Damit variiert auch die Bedeutung der Forderung nach einem Fach. _"Wir fordern ein Fach Chemie" klingt ganz anders wenn damit die Gymnasialstufe gemeint ist als wenn jemand dies für die Grundschule fordern würde.
  • Fordert man ein Fach, ist so landet man unweigerlich bei den Leitmedienwechselreaktionen 2-4 und regt die Vertreter/innen der Reaktionen 3 und 4 gewollt oder ungewollt zu Widerspruch an:
    • Biblionetz:a01182 Leitmedienwechsel-Reaktion 2: Es braucht ein Fach
    • Biblionetz:a01183 Leitmedienwechsel-Reaktion 3: Es braucht ein Fach und Fächerintegration
      "Die haben ja nicht verstanden, dass das Thema auch in alle Fächer muss!" - Doch. "Aber warum sagen sie es dann nicht?"
    • Biblionetz:a01184 Leitmedienwechsel-Reaktion 4: Wer redet noch von Fächern?
      "Die haben ein komplett altmodisches Bild von Schule. Schule 1.0. Noch mehr Fächer, noch mehr Stoffdruck."

Insgesamt ist die generelle Forderung nach einem Fach übervereinfachend. Weder passt die Forderung zu allen Schulstufen noch werden mit einem Fach alle Probleme gelöst. Wenn auch ungewollt: Mit der pauschalen Forderung nach einem Fach erweckt man den Eindruck, die Komplexität des Bildungssystems nicht erfasst zu haben. Damit leidet die eigene Glaubwürdigkeit. Wollen wir das?

Informatik

Während es mir noch vergleichsweise einfach scheint, auf den Begriff Pflicht zu verzichten, ist das bei Informatik schon schwieriger: "Es geht doch schliesslich um Informatik, wir werden doch wohl noch die Sache beim Namen nennen dürfen, oder?" ist eine nicht unverständliche Frage. Wir mussten beim Lehrplan 21 auch dafür kämpfen, dass das Konzept Algorithmus beim Namen genannt und Eingang in den Lehrplan finden durfte. Aber Lehrpläne und bildungspolitische Diskussionen sind dann doch zwei verschiedene Paar Schuhe.

Es gibt aus meiner Sicht zwei gute Gründe, warum man den Begriff Informatik als pauschale bildungspolitische Forderung in Frage stellen kann:

  • Informatik hat einen schlechten Ruf. Das schleckt keine Geiss weg. Und wenn etwas bereits vorurteilsbehaftet ist, werden sich die Leute dagegen wehren, bevor sie es ausprobiert haben: "Informatik ist doof, will ich gar nicht versuchen!" - fast wie bei kleinen Kindern die ein unbekanntes Gemüse kosten sollten. Ich habe vielfach die Erfahrung gemacht, dass es besser kommt, wenn ich mit Skeptiker/innen Informatik einfach mache und es nicht zuvor als Informatik ankündige. Wenn dann der Spass und die Erfolgserlebnisse da sind, kann ich immer noch zur Überraschung vieler erklären, dass das jetzt Informatik war. Mit dieser Erfahrung bin ich nicht alleine. So hat z.B. der Studiengang icompetence der FHNW einen massiv höheren Frauenanteil als sonst in Informatikstudiengängen üblich - unter anderem weil der Begriff Informatik nicht im Zentrum steht (aber auch, weil Design, Usability und gesellschaftliche Aspekte ebenfalls Bestandteil des Studiums sind) (siehe dazu diese Präsentation PDF-Dokument).
    Ja, es ist frustrierend: Ich bin stolz darauf Informatiker zu sein. Wenn ich aber derzeit etwas erreichen will, sage ich derzeit vielleicht nicht gleich zu Beginn, dass ich Informatiker bin. Meine Gegenüber sagen mir dann später, wenn ich meine berufliche Sozialisation offenbare, dass sie solche Ideen/Ansichten/Vorgehensweisen nicht von einem Informatiker erwartet hätten. Mist. Ich kann mich also entscheiden trotzig hinzustehen und zu sagen: "Ich werde ja wohl noch sagen dürfen, dass ich Informatiker bin" - und damit Vorurteile auslösen. Oder ich lerne mit dem aktuell schlechten Ruf der Informatik zu leben und nehme mir vor, primär die Konzepte der Informatik und nicht den Begriff Informatik verbreiten zu wollen.
  • Mit der Forderung #PflichtfachInformatik kommt dem Begriff Informatik gewollt oder ungewollt ein Exklusivanspruch zu: "Informatik ist die (einzige) Antwort der Schule auf die Digitalisierung der Welt." Es gibt Leute, die das tatsächlich so sehen. Ich gehöre nicht dazu. Ein Verständnis der Informatik ist eine der neu wichtig werdenden Kompetenzbereiche in einer digitalisierten Welt, aber nicht die einzige. Informatik nimmt primär eine technologische Perspektive (Biblionetz:w02888) ein. Gewisse Vertreter/innen der Informatik zählen auch die gesellschaftlich-kulturelle Perspektive (Biblionetz:w02886) zur Informatik, andere distanzieren sich explizit von dieser Perspektive (schon nur diese Uneinigkeit ist ein Problem, wenn man Informatik fordert).
    Vertreter/innen der Informatik sind auf jeden Fall nicht die einzigen, die sich als zuständig für notwendige Kompetenzen in einer digital geprägten Kultur (Biblionetz:t09633) erachten. Expert/innen aus den Bereichen Medienbildung und Medienpädagogik würden dies ebenfalls für sich reklamieren. Dort sind die Vorzeichen meist umgekehrt: Vor allem gesellschaftlich-kulturelle Perspektive, weniger technologische Perspektive.
    Langer Rede, kurzer Sinn: Die Forderung #PflichtfachInformatik grenzt gewollt oder ungewollt die Medienbildung und Medienpädagogik aus. Das scheint mir weder inhaltlich noch taktisch sinnvoll zu sein. Um dieses Zuständigkeitsgerangel zu beenden, sollten wir sowohl den Begriff Informatik als auch den Begriff Medienbildung in den Hintergrund rücken. (siehe dazu auch das Posting von 2013: AchDieseBegrifflichkeiten).

Zusammenfassung: Wer Informatik fordert, schreckt ab und grenzt Medienbildung/Medienpädagogik aus. Wollen wir das?

Fazit

Die Forderung #PflichtfachInformatik verursacht durch ihre Formulierung vielfachen impliziten und expliziten, notwendigen und überflüssigen Widerspruch und senkt damit die Wahrscheinlichkeit, mehrheitsfähig zu werden.

w02886.png

Die im Dagstuhl-Dreieck (Biblionetz:w02886) enthaltene Forderung nach verbindlicher digitaler Bildung mit den drei Perspektiven

versucht die oben genannten Stolpersteine zu umgehen ohne eigentlich weniger zu fordern.

Dass sich in den letzten Tagen bei mir sowohl Medienpädagogen als auch Informatiker beklagt haben, in der Dagstuhl-Erklärung habe "die andere Seite" ein deutliches Übergewicht, stimmt mich eigentlich sehr zuversichtlich: Wenn sich alle beklagen, ist dies ein gutes Zeichen für einen ausgewogenen Kompromiss! wink

Bissige Schlussbemerkung an die eigene Zunft

Nach so viel schleimiger Versöhnlichkeit nun doch noch ein bissiger Schlusskommentar: Wenn Informatiker die obigen Überlegungen komplett blödsinnig finden, dann ist das geradezu ein Beleg dafür, dass Informatik als Perspektive alleine nicht ausreicht. Wir müssen nicht nur wissen, wie die Maschinen funktionieren, sondern auch wie etwas auf Menschen wirkt. Und da gibt es nicht nur richtig oder falsch, "wir" und "die anderen", "es beim Namen nennen" oder verleugnen. Die Welt besteht aus vielen Nuancen und aus mehr als 0 und 1...


Lieber Beat,

vielen Dank für diese differenzierte Auseinandersetzung mit einem bildungspolitischen Kampfbegriff. Deine Argumente gegen #PflichtfachInformatik finde ich erfrischend, und in Bezug auf die #Pflicht Komponente auch überzeugend. Ich störe mich aber am Infragestellen des Begriffs Informatik. Hier schüttest du das Kind mit dem Bade aus.

Ich finde, du errichtest mit der “wie funktioniert das” Perspektive für Informatik einen argumentativen Pappkameraden, ebenso übrigens mit dem bissigen “Nullen und Einsen” Blick auf die Diskussion um Inhalte. Die Erkenntnis, dass es mehr als eine (oder zwei, oder drei?) Seiten von etwas gibt, trifft nun wirklich auf alles und jedes zu, und erschlägt somit jede Diskussion um eine vernünftige Stoffbegrenzung. Schlimmer noch, dieser “nicht nur … sondern auch ..” Hinweis offenbart eine Unsicherheit hinsichtlich der (sozialen?) Wertigkeit von Informatik, die vielen anderen Fächern fremd ist (frag’ mal einen Juristen, ob Rechtswissenschaft nicht “mehr” sein müsse, als mit Gesetzen über Sachverhalte zu streiten). Kein Wunder also, dass dieses Vakuum Begehrlichkeiten nach fachlicher Anerkennung bei all jenen weckt, die auch irgendwie “digital” drauf sind. Dabei muss sich Informatik nun wirklich nicht gegenüber anderen Fächern wie Geschichte, Musik, Kunst, Gemeinschaftskunde, Latein usw. schämen.

Wenn wir Modelle in einer höheren Programmiersprache ausdrücken, dann doch nicht deshalb, weil Computer “so funktionieren” (sie tun es mitnichten!), sondern weil Sprache und Mathematik zutiefst menschliche Bedürfnisse sind. Sie eröffnen uns Einsichten darüber, wie wir etwas erdenken, wie wir uns miteinander verständlich machen, und wie wir “ticken”. Die Begegnung mit den Methoden der Informatik bereichert uns sowohl technisch als auch (!) geistig, und lässt uns vieles begreifen, was uns andere Disziplinen nicht erschließen. Informatik ist bedeutsam, weil sie über ihre Phänomene hinaus die Möglichkeit von “Augmentation” (Engelbart) und “Epistémologie” (Papert) birgt.

Ich finde, Informatik ist es wert, begriffen zu werden, und “Begriff” zu sein. Cheers, Jens

-- JensMoenig - 01 Apr 2016

 
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