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Computational Thinking zum Verständnis des digitalen Leitmedienwechsels

02 February 2023 - Version 5

Frank Vohle (Biblionetz:p03155) beschreibt in einem lesenswerten Blogpost, wie Gabi Reinmann (Biblionetz:p01980) und er 2005 das Konzept Weblog (Biblionetz:w01272) und mit Sebastian Fiedler (Biblionetz:p03357) darüber diskutiert hat, was das wesentliche eines Weblogs sei. Während Gabi und er auf den Post als kreative Ausdrucksmöglichkeit fokussierten, hätte Sebastian auf das Revolutionäre des RSS-Feeds (Biblionetz:w01650) gepocht.

Ich musste schmunzeln bei der Lektüre, denn ich bin auch einer dieser RSS-Nerds! Längere Zeit habe ich (meist erfolglos) versucht, andere Menschen in Vorträgen und weiterbildungen von der Bedeutung und den Vorteilen von RSS-Feeds zu überzeugen. Geholfen hat es wenig, RSS ist wieder weitgehend von der Bildfläche verschwunden und Menschen abonnieren weiterhin Newsletter und scrollen endlos durch Timelines von sozialen Medien und News-Portalen.


Meine Vortragsfolien von 2009 zum Thema RSS

Als nächstes beschreibt Frank Vohle in seinem Beitrag, dass er ebenfalls zur Jahrtausendwende das Biblionetz entdeckt, aber nicht wirklich verstanden hätte:

In diesen Nuller-Jahren entdeckte ich auch erstmals Beats Bibliothek. Hinter „Beat“ steht der Schweizer Informatiker und Bildungsdidaktiker Beat Döbeli Honegger und hinter seiner „Bibliothek“ steckt, ja was denn, eine Art „Luhmannscher Zettelkasten“, wie er selbst schreibt. Zu finden sind dort u.a. Texte, Begriffe, Personen, Fragen, Aussagen und Hitlisten rund um das Thema Medienbildung. Alle Elemente – über eine Million – sind verknüpft und bilden einen persönlichen Thesaurus, weswegen der Name Beats Bibliothek treffend ist. Was mich fasziniert: Ich sah damals beim ersten Lesen noch nicht annähernd, was sich da herausbilden sollte; ich hatte dafür keine Kategorie im Kopf, die mir helfen konnte, zu verstehen. Jetzt aus der Rückschau, nach 25 Jahren, mit alle den Erfahrungen und Vergleichen (Zettelkasten, Hypersystem, Internet) ist es klar(er), zumindest sehe ich den Sinn, die Umrisse und den Hintergrund einer „Memex“, einer persönlichen „Ontologie“.

Besten Dank, lieber Frank für diese Erwähnung und Einschätzung! In gewisser Hinsicht geht es mir ähnlich, denn ich wusste vor 25 Jahren auch nicht, auf was ich mich da eingelassen habe! Hätte ich das gewusst, hätte ich evtl. nie damit begonnen - einerseits angesichts der vielen Zeit, die ich mit der Entwicklung und Befüllung des Biblionetzes verbracht habe in den letzten 25 Jahren (wohlwissend, dass eine Zeit kommen wird, wo Computer diese Arbeit werden übernehmen können) und andererseits aus Erfurcht, dass es mir vermutlich zu Beginn nicht gelingen würde, eine Datenstruktur zu entwerfen, die ein Vierteljahrhundert Bestand haben und meinen wandelnden Bedürfnissen stand halten könnte. (Das Biblionetz hat übrigens über eine Million Verknüpfungen zwischen den Objekten, aber massiv weniger als eine Million Objekte…). Ab einer gewissen Zeit war (und ist) für mich das Biblionetz auch ein informelles Forschungsprojekt, selbst auszuprobieren, wie denn Werkzeuge des persönlichen Wissensmanagments in einer digitalisierten Welt aussehen könnten.


Vortragsfolien aus dem Jahr 2020 zu Entstehung und Aufbau des Biblionetzes

Die Erfahrung der letzten 25 Jahre hat mir auch gezeigt, dass die Grundstruktur des Biblionetzes genügend robust war, um meinen Bedürfnissen auch heute noch zu genügen (oder liegt das daran, dass ich mich die letzten 25 Jahre nicht weiterentwickelt habe?) Das Biblionetz war für mich deshalb auch ein wichtiges Objekt, das mir den Wert meines Informatikstudiums an der ETH Zürich bewusst gemacht hat: Ich hatte im Studium gelernt, einen gewissen Ausschnitt der Welt zu abstrahieren / modellieren und mit Hilfe von gewissen Automatismen einigermassen effizient im digitalen Raum abzubilden oder aufzubauen. Gerade das Biblionetz zeigt: Es waren nicht die konkreten Softwareprodukte relevant (das Biblionetz läuft unter der Haube seit 25 Jahren mit Microsoft Access…), sondern die Fähigkeit, wesentliche Struktureigenschaften des zu Modellierenden zu erkennen und Grundtechnologien zu kennen, um diese digital umsetzen zu können.

Zusammen mit dem von Frank Vohle beschriebenen RSS-Nerdtum würde ich diese Eigenschaft als computational thinking (Biblionetz:w02206) beschreiben, dem von Seymour Papert (Biblionetz:p00192) erfundenen und von Jeanette Wing (Biblionetz:p09720) bekannt gemachten Begriff, der sich mit "denken wie Informatiker:innen" umschreiben lässt. Kein Wunder - ich bin ja schliesslich Informatiker, also werde ich doch hoffentlich so denken, wie Informatiker:innen wink

(Bei dieser Gelegenheit ist mir wichtig zu betonen, dass sich in meiner Wahrnehmung computational thinking nicht komplett von der Informatik lösen und auf abstraktes Problemlösen etc. reduzieren lässt, sondern dass die aktuellen Potenziale und Begrenzungen von derzeit verfügbarer Informationstechnologie Teil von computational thinking sein müssen).

Was mich beruflich seit 25 Jahren umtreibt: Wie lässt sich das notwendige computational thinking beschreiben und vermitteln, das zum Verständnis des digitalen Leitmedienwechsels notwendig ist - ohne dass gleich die gesamte Menschheit ein Informatikstudium absolvieren muss?

Seit Jahrzehnten reden wir mit unterschiedlichen Begriffen von Digitalisierung. In der Praxis ist es aber sehr oft eine Schreibmaschinendigitalisierung (Biblionetz:w03334), d.h. die echten Potenziale des Digitalen bleiben ungenutzt und der digitale Prozess ist mitunter noch umständlicher und aufwändiger als der analoge Vorgänger (was Kritiker:innen natürlich in ihrer Kritik am Digitalen bestätigt).

Hier gefällt mir Franks Verweis auf das Buch Flatland (Biblionetz:b0334) von Edwin Abott sehr gut: Wie oft raufen sich Informatiker:innen die Haare, weil in Projekten die Potenziale der Digitalisierung schlicht nicht gesehen werden und dieses Nichtsehen so grundlegend ist, dass auch niemand auf die Idee kommt, frühzeitig Informatiker:innen beizuziehen und nach ihrer Sichtweise auf die Herausforderung zu fragen. Als Informatiker:in kommt man sich teilweise tatsächlich vor wie jemand aus Abotts Buch, der/die zu erklären versucht, dass der wahrgenommene Kreis eigentlich eine Kugel oder ein Zylinder sei.

Ich bin überzeugt davon, dass zum Verständnis der heutigen digitalisierten Welt ein Grundverständnis von Informatik notwendig ist, genau so, wie wir ein Grundverständnis an Physik, Chemie, Biologie, Psychologie, Wirtschaft etc. benötigen, um die Welt verstehen und gestalten zu können. Dies ist der Grund, warum ich mich für Informatik in der Schule einsetze, das Dagstuhl-Dreieck (Biblionetz:w02886) propagiere oder mit dem DPACK-Modell eine Erweiterung des TPACK-Modells vorschlage, das Technologie eben nicht nur als Anwendungskompetenz betrachtet, sondern unter Digitalitätskompetenz (Biblionetz:w03297) alle drei Dagstuhl-Perspektiven vereint. Denn diese drei Dagstuhl-Perspektiven scheinen mir notwendig zu sein, um künftige Entwicklungen des digitalen Leitmedienwechsels, wie sie sich derzeit exemplarisch grad am von Frank ebenfalls erwähnten ChatGPT (Biblionetz:w03387) zeigen, mindestens im Ansatz einschätzen zu können.

Der Flatland-Effekt greift jedoch auch hier: Selbst im Jahr 2023 wird diese Überlegung im Bildungsbereich nicht überall geteilt oder genügend gewichtet (was trotz der anderen grossen aktuellen Herausforderungen langfristig gesehen nicht ganz einzusehen ist). Doch ich habe ja noch Zeit und werde mich auch die kommenden (15, 20, 25?) Jahre als Erklärbär der digitalen Transformation in der Bildung versuchen…


Vortrag aus dem Jahr 2021, der unter anderem das DPACK-Modell vorstellt.

Kommentare von Frank Vohle:

Danke dir Beat! Mit Ludwig Fleck wissen wir, dass Denkstile Tatsachen erzeugen. Es gibt aber Denkstile im Plural. Wenn InformatikerInnen z.B. auf PädagogenInnen treffen, dann ist Missverstehen oder Illusion des Verstehens programmiert bzw. nicht unwahrscheinlich :-). Was tun? Denkstiltraining wäre ein Anfang, damit ich überhaupt kapiere, wie der jeweils Andere die Welt modelliert, sagt, was für ihn/sie WESENTLICH ist, vgl. RSS-Feed. Frank

-- FrankVohle - 02 Feb 2023

Antwort von mir

Lieber Frank,

unter anderem deshalb freue ich mich, dass ich seit nunmehr 15 Jahren als Informatiker umzingelt von Pädagog:innen und Psycholog:innen an einer kleinen Pädagogischen Hochschule im täglichen Training das gegenseitige Verstehen üben kann!

Antwort von Frak Vohle

Du bist ja auch ein Bildungsinformatiker, Kind zweier Welten, der zwischen den Stühlen schafft. Und von "solchen" brauchen wir mehr.

-- FrankVohle - 02 Feb 2023

 
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Die Frage «Wie verhindern wir die Nutzung von X in Kompetenznachweisen?» ist legitim, hat aber nur dritte Priorität.

19 November 2022 - Version 5

In letzter Zeit werde ich öfter auf das Thema «digitales Prüfen» (Biblionetz:w02017) angesprochen. Ich bekunde öfters Mühe mit Antworten. Einerseits, weil ich mich nicht besonders gut mit digitalem Prüfen auskenne. Insbesondere wenn mein Gegenüber darauf besonders erstaunt reagiert, weil ich mich doch mit Digitalem in der Bildung auseinandersetzen würde, muss ich oft etwas weiter ausholen: Digitale Kompetenznachweise und insbesondere das Verhindern von Betrug in solchen digitalen Kompetenznachweisen sind legitime Themen, sollten aber eingebettet sein in übergeordnete Fragestellungen und haben deshalb für mich nur dritte Priorität.

Beim Aufkommen einer neuen Technologie, die etwas besser oder schneller erledigt als es der Mensch bisher getan hat, kommt rasch die Frage auf, wie sich verhindern lässt, dass diese Technologie in der Schule zum Betrügen genutzt werden kann. Klassisches Beispiel: Der Taschenrechner. Er kann schneller rechnen als der Mensch. Somit wurde er anfänglich reflexartig für Prüfungen in der Schule verboten.

Längerfristig hat die Menschheit aber gemerkt, dass das pauschale Verhindern von Taschenrechnern in der Schule keine gute Idee ist. Denn die Existenz des Taschenrechners hat die für das Leben relevanten Kompetenzen verändert. Während die meisten der Meinung wären, dass elementares Kopfrechnen weiterhin zu einer vernünftigen Allgemeinbildung gehört, wird niemand mehr behaupten, man müsse im 21. Jahrhundert zuverlässig schriftlich dividieren können im Leben. Dementsprechend wurden Lehrpläne angepasst: Im Lehrplan 21 kommt zwar das schriftliche Dividieren noch vor, das Einüben der zuverlässigen Nutzung des Verfahrens ist aber im Lehrplan 21 nicht mehr vorgesehen.

Beim Aufkommen neuer Technologien muss es erste Priorität sein zu fragen, wie diese Technologie die künftig im Leben relevanten Kompetenzen und damit die Lernziele, -inhalte und -methoden verändert.

Wenn eine Technologie die für das Leben relevanten Kompetenzen verändert, dann ist die Chance gross, dass Menschen lernen sollten, diese Technologie zu nutzen und im Verbund von Mensch und Technologie bessere Ergebnisse zu erzielen. Beispiel Taschenrechner: Das blosse Rechnen hat an Bedeutung verloren (das übernimmt zuverlässig der Taschenrechner), dafür sind das Verständnis von Berechnungsverfahren und abstraktere Themen der Mathematik wichtiger geworden. Ab einem gewissen Zeitpunkt ist es deshalb sinnvoll, Taschenrechner in der Schule und auch bei Leistungsnachweisen zu nutzen, da sonst die Schule und die Leistungsnachweise lebensweltfern werden und nicht mehr die relevanten Kompetenzen vermitteln.

Das Beispiel Taschenrechner zeigt aber auch, dass wir schon in der Vergangenheit der Meinung waren, trotz verfügbarer Technologien diese nicht immer in der Schule und in Leistungsnachweisen zulassen zu wollen. Die Gesellschaft ist der Meinung, dass Taschenrechner In den ersten Schuljahren nicht gross verwendet werden und Schülerinnen und Schüler zeigen sollen, dass sie die Grundrechenarten auch ohne Verwendung des Taschenrechners beherrschen. Mir ist auch dieser Aspekt wichtig: Obwohl wir davon ausgehen, dass wir später im Leben praktisch immer Zugriff zu etwas taschenrechnerartigem haben werden, finden wir es sinnvoll, wenn dieses Hilfsmittel zu gewissen Zeiten nicht verfügbar ist.

Die zweite Priorität bezüglich Kompetenznachweisen beim Aufkommen einer neuen Technologie hat für mich deshalb die didaktische Frage, wann und weshalb diese Technologie nicht beim Lernen und in Kompetenznachweisen verwendet werden sollen. (Ob und wie der Einsatz der Technologie das Lernen unterstützen kann, ist eine andere wichtige Frage, die ich hier aber nicht weiter verfolgen will).

So, und erst wenn wir die ersten beiden Fragen beantwortet haben, möchte ich mich der Frage zuwenden, wie wir gegebenenfalls die Nutzung einer neuen Technologie in einem Kompetenznachweis verhindern können, um valide und gerechte Leistungsnachweise sicherzustellen.

Wenn mir jemand diese Frage stellt, so möchte ich eigentlich zuerst hören, wie diese Person die ersten beiden Fragen beantwortet.

Während wir als Gesellschaft die Frage bezüglich Taschenrechner weitgehend hinter uns haben, steht sie uns bezüglich anderer Technologien noch bevor:

a) Verbot, Taschenrechner ist Tool das hilfreich ist und mühsames Ausrechnen überflüssig werden lässt. Lösungsweg muss auch zählen, dadurch ist die Frage nach dem Rechner obsolet. No need to do so.

-- WikiGuest - 07 Dec 2022

-- WikiGuest - 08 Jan 2023

 
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Gaslaternen-Forschung

20 July 2022 - Version 2

Die wachsende Bedeutung der digitalen Transformation für die Bildung aber auch die Corona-Pandemie führen dazu, dass in meiner Wahrnehmung derzeit wieder vermehrt Evaluationen der Nutzung digitaler Medien in der Schule durchgeführt werden. In den meisten Fällen werden dazu Fragebogen für Schüler:innen und Lehrpersonen zu deren Selbsteinschätzung von digitaler Kompetenz und Nutzung digitaler Medien zu Lehr- und Lernzwecken verwendet.

In jüngerer Vergangenheit sind mir dabei mehrere Fälle begegnet, bei denen in meiner Einschätzung veraltete Fragen und/oder Skalen verwendet worden sind. Zwei Beispiele.

Beispiel 1: Erhebungsinstrument von 2010

In einer 2021 veröffentlichten Publikation (Biblionetz:t28997) wird zur Erhebung der verfügbaren IT-Infrastruktur ein Erhebungsinstrument aus dem Jahr 2010 verwendet:

Zur Erfassung der technischen Schulausstattung wurde ein Erhebungsinstrument von Breiter et al. (2010) verwendet, welches die Zugangsmöglichkeiten zu sieben digitalen Endgeräten in der Schule und spezifisch für den eigenen Unterricht erfasst. Folgende Endgeräte wurden berücksichtigt: Rechner im Unterrichtsraum, Computerraum, Laptop-Klassensätze, Tablet-Klassensätze, mobile Präsentationseinheiten, Smartboards sowie digitale Kameras, Fotokameras, Aufnahmegeräte. In der vorliegenden Studie wurde die Originalkodierung (0= nicht an der Schule vorhanden; 1= jederzeit Zugang im Unterricht; 2= Zugang nur nach Anmeldung und Absprache; 3= in unserer Schule nicht vorhanden) angepasst: 0= nicht an der Schule vorhanden, 1= an der Schule vorhanden. Hieraus wurde ein Summenscore gebildet, welcher eine Aussage über die Anzahl beziehungsweise Vielfalt der an der Schule vorhandenen Endgeräte macht (Min/Max: 0/7).

Die Verwendung eines über 10 Jahre alten Erhebungsinstruments zur Selbsteinschätzung der IT-Infrastruktur ist für mich hoch problematisch, da die IT-Infrastruktur zu denjenigen Aspekten der digitalen Transformation gehört, die sich rasch entwickeln. Konkret: Während dieses Instrument im Jahr 2010 eventuell die damals wünschenswerte Vielfalt abbilden konnte, passt es nicht mehr zur heutigen Zeit. Wer verwendet heute noch «Aufnahmegeräte» (gemeint sind vermutlich Diktiergeräte) mit Schülerinnen und Schülern deren Audiodateien zur Weiterverarbeitung danach mühsam mit Kabel oder Speicherkarten auf moderne Geräte (Tablets, Smartphones) übertragen werden sollten (die weder über die dafür notwendigen Speicherkartenleser oder Kabelanschlüsse verfügen), wenn leistungsfähige Tablets und Smartphones zur Verfügung stehen? Im Extremfall einer Schule mit einer 1:1-Tablet-Ausstattung kann das Erhebungsinstrument von Breiter et al. von 2010 den Wert 0 ergeben, da die Schule weder über Computerräume, Computer- oder Tablet-Klassensätze noch über analoge oder digitale Kameras, Diktiergeräte oder interaktive Whiteboards verfügt.

Egal was und mit welchen statistischen Methoden mit einem auf dies Art und Weise erhobenen Wert gerechnet und letztendlich geschlussfolgert wird: Es ist problematisch – oder wie Informatiker:innen sagen würden: GIGO: Garbage in – Garbage out. Es hilft übrigens nichts, wenn in solchen Fällen errechnet und geschlussfolgert wird, dass die IT-Ausstattung keinen Einfluss auf andere untersuchte Variablen habe und damit der IT-Ausstattung eigentlich keine grosse Bedeutung zukomme. Auch diese Aussage steht auf sehr wackligen Füssen.

Beispiel 2: Veraltete, abgeschnittene Antwortskala

Aktuell befragt das Institut für Erziehungswissenschaft der UZH zusammen mit der eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung (EHB) Lehrpersonen der Sekundarstufe II in der Schweiz zur Nutzung digitaler Medien im Unterricht. Dabei wird u.a. folgende Frage gestellt:

Betrachtet man die zur Verfügung gestellte Antwortskala dieser Frage, so fällt auf, dass sie weder vollständig noch ausbalanciert ist. So ist es zwar möglich, mit «nie» zu antworten, nicht aber mit «jede Unterrichtsstunde». Mehrere Lehrpersonen haben sich bei mir gemeldet, dass sie diese Fragen teilweise gar nicht wahrheitsgemäss ausfüllen könnten…

Gaslaternen-Forschung

In Anlehnung an den Begriff der Strassenlaternen-Forschung (Biblionetz:w03285), welcher die Tendenz beschreibt, dort zu forschen, wo die Daten am leichtesten verfügbar sind, nenne ich solche Forschung künftig Gaslaternen-Forschung (Biblionetz:w03362). Damit beschreibe ich das Phänomen, in sich wandelnden Untersuchungsfeldern veraltete Evaluationsinstrumente und -skalen zu verwenden, weil diese bereits validiert und publiziert sind.

Probleme von Gaslaternen-Forschung

Gaslaternen-Forschung hat für mich zwei Probleme. Das offensichtliche – Garbage in / Garbage Out – habe ich bereits angesprochen. Es ist frustrierend zu sehen, wie oft mit viel Statistik versucht wird, aus veralteten Erhebungsinstrumenten valide Erkenntnisse zu gewinnen.

Auf einer Meta-Ebene ist für mich Gaslaternenforschung aber auch über das konkrete Forschungsvorhaben problematisch, weil sie meiner Meinung nach das Vertrauen in entsprechende Forschung untergräbt. Wer aufgefordert wird, Fragebogen mit solch veralteten Auswahlmöglichkeiten zu beantworten, verliert das Vertrauen in die Aussagekraft entsprechender Forschungsergebnisse und wird deshalb künftig (noch) weniger (oder nicht mit der notwendigen Ernsthaftigkeit) an entsprechenden Befragungen teilnehmen

Warum entsteht Gaslaternen-Forschung?

Angesichts der offensichtlichen Probleme von veralteten Erhebungsinstrumenten: Warum tun Forschende so etwas? Sie sind ja nicht blöd (oder mindestens nicht alle davon). Ich habe zwei Erklärungsansätze. Beide beruhen auf der Grundaussage: «Dazu existiert bereits ein publiziertes Erhebungsinstrument».

  • Fehlende Kompetenz im entsprechenden Thema: In meiner Wahrnehmung werden solche Erhebungsinstrumente oft von Forschenden verwendet, die zwar forschungsmethodisch kompetent sind, sich aber mit dem konkreten Aspekt des problematischen Erhebungsinstruments nicht auskennen und damit die Problematik des Instruments gar nicht erkennen.
  • Effizienz / Vergleichbarkeit / Publizierbarkeit der eigenen Untersuchung: Daneben gibt es auch Forschende, denen die Problematik veralteter Erhebungsinstrumente durchaus bekannt ist, sich aber trotzdem bewusst für deren Verwendung entscheiden. Dahinter stecken mehrere Begründungen, die sich letztendlich alle auf die Maxime Publish or Perish in der Wissenschaft zurückführen lassen:
    • Effizienz: Es ist effizienter, ein bestehendes Erhebungsinstrument zu verwenden, als ein eigenes zu entwickeln.
    • Vergleichbarkeit: Wird ein bestehendes Erhebungsinstrument verwendet, so lassen sich die Daten der eigenen Erhebung mit derjenigen früherer Erhebungen vergleichen. Damit sind unter Umständen interessante längsschnittliche Aussagen machbar.
    • Publizierbarkeit: Sowohl die Verwendung etablierter Erhebungsinstrumente als auch längsschnittliche Vergleiche erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass eine entsprechende Publikation akzeptiert wird, da dies zeigt, dass die Autor:innen sich mit der bereits publizierten Forschung beschäftigt haben (nein, diese Hypothese habe ich nicht empirisch geprüft).

 
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sixthsense

27 May 2009 - Version 2

Heinz Küng hat mich auf ein aktuelles TED-Video von MIT-Forscherin Pattie Maes aufmerksam gemacht, in welchem sie ihr Projekt sixthsense vorstellt.

'SixthSense' is a wearable gestural interface that augments the physical world around us with digital information and lets us use natural hand gestures to interact with that information.

Das Video hat mich ein paar Mal zum Schmunzeln gebracht und wieder mal bestätigt, dass die technische Entwicklung noch einiges zu bieten haben wird. Das Telefon in der Hand sieht ja wirklich nach science fiction vom Feinsten aus:

sixthsense.jpg

Bei aller Begeisterung als Technikfreak gilt es aber immer wieder zu bedenken, dass das technisch Mögliche nur die eine Seite der Medaille ist. Ob sich dies auch so verbreiten wird, ist eine ganz andere Sache. So ist es beispielsweise 10 Jahre (!) her, seit der Sony-Forscher Jun Rekimoto (Biblionetz:p03969) an der CHI 1999 gezeigt hat, wie augmented reality (Biblionetz:w01896) bei Meetings funktionieren könnte.

Ein Film der mich heute noch fasziniert, vielleicht gerade weil die Innovation den Weg in den Alltag noch nicht gefunden hat:

(Jun Rekimoto ist auch Mitentwickler von CyberCode (Biblionetz:w01163), einem 2D-Barcode-System (Biblionetz:w02048) aus dem Jahr 2000 (!), das seinen Weg in die Sony Vaio C1-Subnotebooks gefunden hat, dann aber leider wieder verschwand.

Meet the SixthSense interaction Pattie Maes + Pranav Mistry https://www.ted.com/talks/pattie_maes_pranav_mistry_meet_the_sixthsense_interaction?language=en (2009)

-- WikiGuest - 28 Jan 2022

 
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Der digitale Raum als vierter Pädagoge - Das AAA-Modell

21 January 2022 - Version 2

"Software prägt zunehmend unseren Alltag" ist ein Allgemeinplatz, den man bald nicht mehr hören mag. Trotzdem ernte ich derzeit erstaunte Blicke, wenn ich erkläre, dass digitale Lernumgebungen den Unterricht prägen und man deshalb bei der Wahl von entsprechender Software darauf achten sollte, ob die angedachte Software zum eigenen Schulleitbild passt. Ich habe mir deshalb überlegt, wie ich analog zur bekannten Aussage Der Raum als dritter Pädagoge (Biblionetz:a01431) die Thematik Der digitale Raum als vierter Pädagoge (Biblionetz:a01432) analysieren und verständlicher machen kann.

Als vorläufiges Zwischenergebnis bin ich zum AAA-Modell der Software-Prägung gekommen. In meiner Wahrnehmung prägt Software (und damit auch Lernsoftware oder Lernplattformen) auf drei Ebenen:

  • Aufmerksamkeit: Das Zur-Verfügung-Stellen einer Software schafft Aufmerksamkeit für ein Thema / ein (vermeintliches Problem

  • Affordance: Software legt gewisse Nutzungspraktiken nahe.

  • Ausschluss: Software definiert abschliessend, wer innerhalb der Software welche Handlungsmöglichkeiten hat.

Was meine ich mit diesen drei Ebenen konkret?

  • Aufmerksamkeit: Wenn ein Kanton oder eine Schulgemeinde eine Lernsoftware oder eine Lernplattform zur Verfügung stellt, dann ist dies nicht nur ein neutrales Angebot. Dahinter steckt auch die relativ unverbindliche Aussage "Wir denken, dass dieses Produkt für euch nützlich sein könnte" oder aber die bereits verbindlichere Aussage "Wir haben dafür Geld ausgegeben und erwarten eigentlich auch, dass ihr dieses Produkt nutzt." Dies gilt sowohl für Wandtafel als auch für persönliche Notebooks und Tablets.
    Konkrete Beispiele zum Überdenken dieser Hypothese:
    • Das deutsche Bundesland Nordrhein-Westphalen hat im Februar 2021 2.6 Millionen bezahlt, um allen Schulen die Angebote des Brockhaus-Verlags zur Verfügung zu stellen. (Quelle)
    • Der Bildungsraum Nordwestschweiz stellt den Schulen mit Mindsteps eine Aufgabensammlung zur Unterstützung des kompetenzorientierten Lernens und zur Erfassung des Lernstands von Schülerinnen und Schülern in den Fächern Deutsch, Englisch, Französisch und Mathematik zur Verfügung. (Quelle)

  • Affordance: Ich kann zwar mit einem Hammer auch die Wand streichen, aber das Werkzeug legt eher nahe, dass ich Nägel einschlage. Scheren legen meist durch die Form ihrer Löcher nahe, mit welcher Hand sie gehalten werden sollten etc. Wie jedes Werkzeug legt auch Software gewisse Arten der Nutzung nahe. Ich kann mit einer Textverarbeitung zwar auch eine Präsentation erstellen oder in einer Tabellenkalkulation durch Ausfüllen der Tabellenzellen ein Pixelbild malen, aber die Software legt doch gewisse Nutzungspraktiken nahe. Neben diesen offensichtlich plakativen Beispielen geschieht dies auch subtiler: Standardeinstellungen in Programmen werden meist übernommen und prägen somit die Art und Weise der Nutzung: In der Videokonferenzsoftware Zoom ist beispielsweise das private Chatten unter den Teilnehmenden per default unterbunden. Ich kann das zwar als Moderator einer Videokonferenz erlauben, muss aber dafür aktiv etwas umschalten.
    Konkrete schulische Beispiele zum Überdenken dieser Hypothese:
    • Welches Rollenverständnis vermitteln die Rollen und die dazu passende Standardeinstellung der entsprechenden Berechtigungen in einer Lernplattform wie Moodle?
    • Wie prägt die Leseförderungsplattform Antolin die Sichtweise auf das Lesen von Büchern durch die Möglichkeit des Punktesammeln beim korrekten Beantworten von Quizfragen zu den gelesenen Büchern?

  • Ausschluss: Während man sich bei der Affordance gegen die Vorgaben entscheiden und einen anderen Weg einschlagen kann, ist dies nicht immer möglich. Software schafft nicht nur Möglichkeiten, sondern definiert auch abschliessende und innerhalb der Software unüberwindbare Grenzen dieser Möglichkeiten. Software definiert abschliessend, wer innerhalb der Software welche Handlungsmöglichkeiten hat. Diese Einschränkungen können sowohl in den Datenstrukturen als auch in den Prozessen liegen. Wenn das Computersystem, mit dem die Schweiz die Pässe der Bürgerinnen und Bürger verwaltet, bestimmte Sonderzeichen nicht kennt, dann lassen sich beispielsweise gewisse Namen schlicht nicht korrekt speichern und im Pass abdrucken.
    Konkrete schulische Beispiele zum Überdenken dieser Hypothese:
    • Im Identitätsförderationssystem edulog (Biblionetz:w03014) der EDK kann eine Person nicht gleichzeitig Lehrperson und SchülerIn sein.
    • Während ich auf einem Blatt Papier auch bei einer Lückentextaufgabe ein Bild hineinzeichnen kann, wird das in digitalen Lückentexten in den wenigsten Fällen funktionieren.

Diese Überlegungen sind erst vorläufig und können sich noch ändern/erweitern. Dabei liessen sich diese Beschreibungen problemlos detaillierter und komplexer machen, entsprechende Literatur und Modelle dazu gibt es genügend. Mein Ziel ist aber auch hier, Modelle und Erklärungen zu finden, die noch für die Schulpraxis verständlich und handlungsleitend sein können.

 
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