Dagstuhl-Dreieck 2.0?
Vor etwa dreieinhalb Jahren haben wir auf Schloss Dagstuhl überlegt, wie man Entscheidungsträgern im Bildungswesen möglichst einfach erklären könnte, was Schülerinnen und Schüler
über Digitales wissen müsste und warum das verbindlich in der Schule vermittelt werden sollte.
Herausgekommen ist die Erklärung
Bildung in der digitalen vernetzten Welt (
Biblionetz:t18567) mit einer prägnanten Darstellung der drei Perspektiven auf digitale Phänomene:
Die Entwicklungsgeschichte dieses sogenannten
Dagstuhl-Dreiecks (
Biblionetz:w02886) habe ich damals ebenfalls in diesem Blog beschrieben unter dem Titel
Dagstuhl-Dreieck: "Speak with one voice" reloaded.
In den letzten drei Jahren hat das Dagstuhl-Dreieck eine aus meiner Sicht überraschend erfreuliche Verbreitung erlebt. Es wurde nicht nur im deutschsprachigen Raum rezipiert, sondern ist auch in der französischsprachigen Schweiz auf fruchtbaren Boden gestossen und ist unterdessen auch auf englisch verfügbar und weiterverbreitet worden.
Die Lehrmittelreihe connected des Zürcherlehrmittelverlags hat das Dagstuhl-Dreieck als leitendes Modell übernommen und das Lehrmittel entsprechend strukturiert:
Natürlich ist das Dagstuhl-Dreieck nicht kritiklos geblieben. Neben Fundamental-Opposition von beiden Polen gab es auch moderatere Kritik zur Weiterentwicklung des Modells. Sowohl von Inforamtik- als auch von Medienbildungsseite wurde kritisiert, dass aus dem Dagstuhl-Dreieck nicht deutlich werde, dass es doch (auch) um eine Gestaltung der digitalen Welt gehe. Für mich persönlich war dies zwar implizit immer klar, kam aber tatsächlich durch die drei kurzen Fragen
Wie funktioniert das? Wie wirkt das? und
Wie nutze ich das? nicht explizit.
Im Sommer 2019 liegen nun zwei weitere Dreiecke vor, die als Weiterentwicklungen des Dagstuhl-Dreiecks betrachtet werden können oder sich selbst so bezeichnen (jaja, nicht die Dreiecke bezeichnen sich selbst so, sondern die Macherinnen und Macher der Dreiecke…).
So hat eine Gruppe von InformatikerInnen und MedienwissenschaftlerInnen in mehreren Überarbeitungsrunden das
Frankfurt-Dreieck (
Biblionetz:w03077) entwickelt und einen entsprechenden
Text (
Biblionetz:t25408) publiziert. Die Autorinnen und Autoren erklären darin:
Das Frankfurt-Dreieck ist eine Erweiterung und Fortschreibung des in der
Dagstuhl-Erklärung enthaltenen Dagstuhl-Dreiecks und richtet sich in Ergänzung dazu nun
in erster Linie an Forscher*innen und andere Personen, die sich primär reflexiv und
theoretisch mit Bildung im Kontext des digitalen Wandels beschäftigen. Das Papier will die
aus verschiedenen Disziplinen an die Gruppe der Autorinnen und Autoren herangetragenen
konzeptionellen Lücken beispielsweise zur Gestaltung von Informatiksystemen oder zur
Einordnung und Rolle des Individuums als handelndes und medial adressiertes Subjekt
schließen. Entsprechend gelten die politischen Forderungen der Dagstuhl-Erklärung (2016)
weiterhin, werden konzeptionell ergänzt und auf außerschulische Bildungskontexte erweitert.
Dass sich das Dreieck eher an
"Forscher*innen und andere Personen, die sich primär reflexiv und theoretisch mit Bildung im Kontext des digitalen Wandels beschäftigen" merkt man meiner Ansicht nach der Darstellung an, sie ist wortreicher und für Praktiker*innen schwieriger zu verstehen geworden:
Neben dieser stärkeren Fokussierung auf Theorie und Reflexion hat aus meiner Sicht aber auch eine Verschiebung der drei Perspektiven stattgefunden. Ich habe die
Anwendungsperspektive immer als sehr pragmatisch auf konkrete Nutzung ausgerichtet verstanden: Was muss ich konkret wissen und können, um derzeit verfügbare Hard- und Software einigermassen kompetent nutzen zu können. In der nun
Interaktionsperspektive genannten dritten Perspektive des Frankfurter Dreiecks wird zusätzlich die
Subjektivierung betont:
Aus der Interaktionsperspektive betrachtet, interessiert, welches Menschenbild durch diese Formen möglicher Selbstthematisierung
konstituiert wird. Zweitens wird abstrakter auch die Frage gestellt, wie und vor dem Hintergrund welcher kulturellen Einschreibungen Subjekte in den jeweiligen Medien repräsentiert und adressiert sind, beispielsweise in Form von Interessenprofilen in Empfehlungs- und Filtersystemen oder auf Ebene von Interfaces und Interaktionsmöglichkeiten. Drittens sind beispielsweise im Angesicht von Data Analytics und Künstlicher Intelligenz traditionell auf Subjekte bezogene Konzepte wie Autonomie und Authentizität auch auf technologisch-medialer Ebene in den Blick zu nehmen.
In meiner Wahrnehmung würden diese Aspekte zur
gesellschaftlich-kulturellen Perspektive gehören und durchaus mit der Frage
Wie wirkt das? mitgemeint sein können. Für mich ist beim Dagstuhl-Dreieck ist relevant, dass die Anwendungsperpektive salopp und ungenau formuliert so das
ECDL-Wissen umfasst und ich EntscheidungsrägerInnen somit relativ rasch und einfach anhand der anderen beiden Perspektiven aufzeigen kann, dass es eben
mehr braucht als nur Anwendungskompetenzen. Mit der Umwandlung der Anwendungsperspektive in die Interaktionsperspektive verliere ich beim Frankfurter Dreieck diese einfache Erklärungsmöglichkeit.
Für meinen pragmatischen Bedarf in der Bildungspolitik ist somit das Frankfurter Dreieck nicht sehr hilfreich, weil es sich nicht dafür eignet, in einem
elevator pitch einem Journalisten oder einer Entscheidungsträgerin die wesentlichen Aspekte eines Wissens
_über digitale Phänomene zu erklären. Auch in der Aus- und Weiterbildung werde ich weiterhin das einfacher zugängliche Dagstuhl-Dreieck verwenden.
Ein andere Weiterentwicklung des Dagstuhl-Dreiecks ist in der
Charta Digitale Bildung (
https://charta-digitale-bildung.de/,
Biblionetz:t20900) zu finden und geht in die andere Richtung. Die gesamte Charta hat bequem auf einer A4-Seite Platz:
Die Grafik, stellt nun das Gestalten in den Mittelpunkt, was mir sehr gefällt (und hoffentlich auch andere glücklich macht):
Wermutstropfen für mich: Der
Doppelpfeil, der für mich (oder auch für Petra Grell, siehe
ihre Keynote an der GMW 2019 in der Minute 28) schön symboliserte, dass es sich bei der Frage
Wie wirkt das? nicht um eine Einbahnstrasse handelt, sondern die Frage eigentlich korrekter
Wie wechselwirkt das? heissen müsste, wurde durch ikonisierte Menschen ersetzt.
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