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Wozu noch Ordner?

04 April 2021 - Version 1

Derzeit wird aufgrund eines Vortrags von Axel Krommer (Biblionetz:p15242) auf Twitter diskutiert, ob man zum Ablegen von Dokumenten noch Ordner benötigt oder ob dank Volltextsuche Ordner heute überflüssig seien.

Wie immer, ist das Thema natürlich älter und geht unter anderem auf das 2007 erschienene Buch Everything is Miscellaneous (Biblionetz:b03258) von David Weinberger (Biblionetz:p01471) zurück, das auf Deutsch mit dem Titel Das Ende der Schublade erschienen ist. :

ordner.png

Ich kenne diese Überlegungen somit sehr wohl. Trotzdem gibt es in meinem Alltag mehrere Gründe, warum ich mich bisher nicht von Ordnern verabschiedet habe, sowohl in meiner eigenen Dateiablage als auch bei der Zusammenarbeit mit anderen.

Warum mache ich selbst in meiner eigenen Dateiablage Ordner, obwohl ich doch eine Volltextsuche habe?

  • Trennung von Lebensbereichen: Nicht nur die Trennung von Privat und Beruf, auch innerhalb des Arbeitslebens gibt es Bereiche, die sich klar trennen lassen und die wenig Überlappung besitzen. Hier hilft es mir beim Wiederfinden von Dokumenten, wenn ich eine solche Grobtrennung haben.
  • Findability: Nicht alle Dokumente in meiner Dateiablage enthalten genügend trennscharfe Begriffe (an die ich mich dann auch noch unter Zeitdruck - z.B. in einer Sitzung - erinnere), dass ich sie mit einer guten Volltextsuche effizient finde (insbesondere z.B. Präsentationen). Da ist es praktisch, wenn ich entweder direkt im entsprechenden Ordner nachschauen oder aber die Ergebnisse der Volltextsuche zusätzlich durch Ordnerangaben eingrenzen kann.
  • Weitergabe von Dossiers: Selbst wenn ich derzeit alleine für eine Datensammlung zuständig bin, kann es sein, dass ich diese später einmal weitergeben will, entweder weil ich das entsprechende Dossier abgebe oder aber weil jemand ebenfalls diese Datensammlung nutzen können möchte. Beispiele:
    • Lehrveranstaltung
    • Projekt
  • Speicherplatz: Die Gesamtheit meiner Daten ist grösser als das Fassungsvermögen meines aktuell genutzten persönlichen Arbeitsgerätes. Ordner helfen mir, Daten unterschiedlich zu behandeln bezüglich Speicherorte (lokal, extern, cloud) und bezüglich Backupstrategie.

Darüber hinaus gibt es weitere Gründe, warum ich in der Zusammenarbeit mit anderen Ordner erstellen:

  • Definition des Gruppe: Ein Ordner pro Gruppe bietet sich schon nur an, um die Gruppe auch bezüglich Daten zu definieren:
    • Was gehört zu unserer Gruppe, wovon gehen wir aus, was haben wir erarbeitet? So gehört bei mir bei vielen Gruppen eine Sammlung von Ausgangsdokumenten zur "Gruppendefinition": Von welchen Grundlagen gehen wir aus? Dies erfordert einen Ordner pro Gruppe (und führt dazu, dass gewisse Dokumente mehrfach abgelegt werden).
      Dies ist insbesondere auch dann relevant, wenn neue Personen zu einer Gruppe dazustossen. Wie ohne Ordner sollen sie sich rasch einen Überblick über "das Vorhandene" verschaffen?
    • Schutz der gespeicherten Daten: Es gibt verschiedene Gründe, warum gewisse Dokumente nur innerhalb einer Gruppe lesbar und evtl. änderbar sein sollen. Neben schützenswerten Personendaten, urheberrechtlich geschützten Daten kann es sich auch um Entwürfe von Dokumenten handeln, die evtl. erst zu einem späteren Zeitpunkt einem grösseren Publikum zugänglich gemacht werden sollen. Dies scheint mir ohne Zugangsberechtigungen nicht machbar zu sein. Ordner sind wiederum aus meiner Sicht ein guter Behälter für gemeinsame Zugriffsrechte.
  • Arbeitsweise von anderen: Die meisten Leute sind sich Ordnerstrukturen gewohnt. Selbst wenn die anderen Gründe hinfällig würden, wäre vermutlich eine gewisse Überagangzeit notwendig, bis alle Beteiligten von Ordnern loslassen können.

Für mich ist deshalb Ordner oder nicht Ordner? keine Schwwarz-weiss-Frage. Im Wissen darum, dass es Volltextsuche gibt, mache ich weniger Ordner als früher. Aber ganz aufgeben möchte ich sie bis auf weiteres nicht.

 
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Pseudo-Neuro-Bullshit

03 March 2019 - Version 3

Ich weiss, ich sollte dieses Weblog eigentlich nicht mit Kritik an Digitalkritik füllen, sondern mich mit Relevanterem beschäftigen, statt nur zu lästern. Weil ich aber in jüngerer Vergangenheit mehrfach auf die Texte von Prof. Getraud Teuchert-Noodt (Biblionetz:p15652) hingewiesen worden bin, die ich doch bitte beachten möge, hier meine Antwort darauf.

Frau Prof. Getraud Teuchert-Noodt ("Neurobiologin, ehem. Universität Bielefeld. Leitung des Bereichs Neuroanatomie an der Fakultät für Biologie von 1979 – 2006") tritt in letzter Zeit an verschiedenen Orten im Internet in Erscheinung, teilweise mit eigenen Texten, teilweise in Interviews. Bei mindestens zwei Interviews scheint es sich dabei um identische Texte zu handeln, bei denen einfach die Reihenfolge der Fragen vertauscht worden ist (Quelle 1 und Quelle 2).

Frau Teuchert-Noodt wird u.a. gefragt, warum man angesichts eines Bildschirms nichts lernen kann:

Sie postulieren, dass es kein digitales Lernen geben kann. Warum bleibt im Kopf nichts hängen, wenn man mit dem Finger über einen Display wischt?

Das trifft den Kern des Problems. Das Gehirn ist ein Konstrukt, das während der Entwicklung nach ganz einfachen Regeln von einem klugen Baumeister, der Selbstorganisation, aufgebaut wird. Der Aufbau startet im Embryo und ist den Reifungssequenzen des gesamten Körpers unterstellt. Jedes Organ und alle Sinne entwickeln im neuronalen Substrat des Gehirns eine „Repräsentation“, eine Punkt-zu-Punktverbindung. Die nervösen Verbindungen zu den körperlichen Ursprüngen bleiben lebenslang bestehen und Aktivitäten garantieren den Dialog zwischen Körper und Hirn. Ähnlich der Blutversorgung durch Gefäße sind Nervenbahnen unsere Lebensadern. Digitale Medien schneiden das reifende Gehirn des Kindes von diesen Lebensadern ab und lassen nicht zu, dass sich in der Hirnrinde sinnbezogene Repräsentationen anlegen.
Quelle PDF-Dokument (Biblionetz:t23912)

Ich finde diese Antwort absolut faszinierend! Da werden im ersten Teil der Antwort einige neurologische Fachbegriffe und Fakten erzählt, denen vermutlich niemand widersprechen würde. Im zweiten Teil der Antwort wird dann ohne kausale Verknüpfung behauptet, digitale Medien würden verhindern, dass das kindliche Gehirn sinnbezogene Repräsentationen anlegen kann. Null, aber wirklich null Erklärung, was das mit digitalen Medien zu tun hat und warum dies z.B. bei einem Buch nicht der Fall sein sollte.

Irgendwie werde ich den Verdacht nicht los, dass hier versucht wird, die Glaubwürdigkeit durch Neurologie zu erhöhen. Man weiss ja, dass Menschen dazu neigen, Aussagen überzeugender finden, wenn sie in einem neurologischen Zusammenhang erzählt werden (siehe dafür Biblionetz:a00961).

Wie so oft, lohnt sich bei solchen Argumenten der Bücher-Check: Ist das bei Büchern nicht genau so?

Besonders gut lässt sich dieser Check z.B. bei der folgenden Antwort von Frau Teuchert-Noodt anwenden:

Wie also müssten Kinder aufwachsen, um gegen die Gefahren der neuen Techniken gewappnet zu sein?

Das Tablet im Kinderzimmer versetzt das Kind in eine digitale Zwangsjacke. Elementare Bedürfnisse wie Krabbeln, Laufen, Klettern werden unterdrückt. Diese Bedürfnisse dienen dazu, die Sinne zu schärfen, die Muskeln zu stärken, den Geist und die Freude an körperlicher Ertüchtigung zu wecken. Nur wenn die Nervenzellen der einzelnen Hirnfelder sehr viele Kontakte mit sehr vielen anderen Zellen ausbilden, kann ein intelligentes Gehirn heranreifen.

Dagegen setzt eine Kaskade von Behinderungen ein, wenn Schaltkreise des Großhirns von den Lebensadern durch digitale Spielsachen abgeschnitten sind: Das Sprechenlernen verzögert sich, die Händchen können ihre Fähigkeit nicht entfalten, einen Mal- oder Schreibstift zu halten. Kürzlich erreichte uns eine Alarmmeldung aus London, weil Sechsjährige den Stift nur mit dem Fäustchen halten konnten und die Einschulung gefährdet war.
Quelle PDF-Dokument (Biblionetz:t23912)

Ersetzen wir das Digitale doch durch Gedrucktes:

Wie also müssten Kinder aufwachsen, um gegen die Gefahren der neuen Techniken gewappnet zu sein?

Das Buch im Kinderzimmer versetzt das Kind in eine papierene Zwangsjacke. Elementare Bedürfnisse wie Krabbeln, Laufen, Klettern werden unterdrückt. Diese Bedürfnisse dienen dazu, die Sinne zu schärfen, die Muskeln zu stärken, den Geist und die Freude an körperlicher Ertüchtigung zu wecken. Nur wenn die Nervenzellen der einzelnen Hirnfelder sehr viele Kontakte mit sehr vielen anderen Zellen ausbilden, kann ein intelligentes Gehirn heranreifen.

Dagegen setzt eine Kaskade von Behinderungen ein, wenn Schaltkreise des Großhirns von den Lebensadern durch gedruckte Bücher abgeschnitten sind: Das Sprechenlernen verzögert sich, die Händchen können ihre Fähigkeit nicht entfalten, einen Mal- oder Schreibstift zu halten. Kürzlich erreichte uns eine Alarmmeldung aus London, weil Sechsjährige den Stift nur mit dem Fäustchen halten konnten und die Einschulung gefährdet war.

Die Beispiele liessen sich beliebig weiterführen… :-/

Liebe Digitalkritiker, es gibt durchaus ernsthafte Bedenken und Gefahren des Digitalen, die wir diskutieren müssen. Aber auf diesem Niveau bringt das einfach nichts.


-- WikiGuest - 20 Jan 2021

Lieber Wiki-Guest! Erlauben Sie mir als vermutlich älterem Zeitgenossen als Sie es sind, einen bescheidenen Hinweis, der sich vielleicht sogar nahtlos an die Forschungen der Frau Professorin anfügen lässt: Ich habe in einem langen Leben gelernt, dass Theorie und Praxis schlicht verschiedene Kompetenz erfordern. Nur weil ich über alles Mögliche lesen kann, beherrsche ich die Materie nicht von Innen. Die von Ihnen gestützte Digitalkultur hat dazu geführt, dass heue jeder meint, überall kompetent zu sein! Plötzlich wissen alle über Medizin, Juristerei, Pädagogik Bescheid - jeder hat unendlich viel Berufskompetenz in Bereichen, in denen sie nicht eine Sekunde verbracht haben. Glauben Sie wirklich, dass Sie einer Professorin der Neurologie das Wasser reichen können und auch nur einen einzigen vernünftigen Satz zur Thematik äussern? Ich würde mich das nie erdreisten, sowenig ich einem Maurer Ratschläge im Betonmischen geben würde - trotz meiner mehreren Studienabschlüsse und vielen ausgeübten Berufen in meiner Jugend. Ihre Argumentation, in der Sie mangelnde Stringenz der Professorin monieren, fordert, dass die Dame in einem Interview sozusagen den Dämel zum Nobelpreisträger macht. Vertrauen Sie doch einfach einem Fachmann - das tun sie vermutlich doch auch, wenn Ihre Frau sie bekocht und Sie hinterfragen nicht ihre Rezeptwahl! Und zuletzt: Ihre Argumentation betreffs der Austauschbarkeit der Medien Bildschirm/ Buch ist wirklich erbärmlich. über dieses Thema weiss mittlerweile jeder 7-Klässler besser Bescheid. Mein Tipp: Kaufen sie ihrem Kind ein Buch, falls es (noch) lesen kann. Und lassen Sie es dieselbe Zeit vor dem Bildschirm verbringen und literarische Texte lesen. Danach stellen Sie ein paar intelligente Fragen zum Gelesenen. Danach dürfen Sie hier weiter frotzeln, wenn Sie noch können.

-- WikiGuest - 20 Jan 2021

 
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Ob und wie - revisited (Folge 137)

05 November 2020 - Version 4

1986 schrieb Heinz Moser (Biblionetz:p00885) im Buch Der Computer vor der Schultür (Biblionetz:b01568)

Anpassung oder Widerstand, das ist heute eine überholte und verfehlte Frage. Weigern sich Lehrer, Eltern oder Schulbehörden, sich mit diesen Problemen auseinanderzusetzen, dann geben sie lediglich ihr Mitspracherecht sang- und klanglos preis. Denn die Computer sind schon da, mitten in unserer Gesellschaft - nur manche haben dies noch nicht gemerkt.

Über 30 Jahre ist das her - und noch immer wird an gewissen Orten über Anpassung und Widerstand gestritten. Mit der zunehmenden Verbreitung des Digitalen in der Schule zeigt sich aber vor allem, dass das wie noch lange nicht ausdiskutiert worden ist.

Lisa Rosa hat 2016 eindrücklich betont (Biblionetz:t19215), dass wir uns auf das wie konzentrieren und die ewige Diskussion um das ob hinter uns lassen sollten:

Wenn wir glauben, dass unsere Hauptaufgabe immer noch darin bestünde, die zu überzeugen, die weiterhin ihre „Finger in die Ohren stecken und lalala rufen“, verpulvern wir unsere Kräfte in einem historisch längst entschiedenen Kampf, während wir die Auseinandersetzung, die noch zur Entscheidung steht, verpassen bzw. das Feld denen überlassen, die sie zum Schlechteren entscheiden.

Darum also zur Frage des wie: Kürzlich hat Jöran Muuß-Merholz einen lesenswerten Artikel unter dem Titel Trojaner, Katalysator oder Verstärker? (Biblionetz:t26540) veröffentlicht, der unter anderem von Philippe Wampfler im Blogpost 10 Thesen zu Schulentwicklung und Digitalität kommentiert worden ist. Insbesondere die von Philippe Wampfler überarbeitete Grafik von Jöran Muuß-Merholz hat mich getriggert, diesen Beitrag zu schreiben bzw. Grafiken zu zeichnen wink

Die Grafik hat mich daran erinnert, dass ich 2012 erstmals ebenfalls in diesen Kategorien nachgedacht habe in einem Vortrag im Kanton Zug:

Grund genug, diese Überlegungen zu aktualisieren und mit den Gedanken anderer zu verknüpfen! Also:


Früher (TM) war meist die Frage, ob es Computer in der Schule braucht oder nicht:

Davon unabhängig und bereits vor der Markteinführung des Personal Computers 1981 gab es immer wieder Diskussionen zur Frage, worauf denn Schule vorbereiten müsse und welche Lerntheorie bzw. Lernkultur dafür benötigt würde:

Mit der zunehmenden Verbreitung von Computern begannen sich diese beiden Perspektiven zu überlagern: Einerseits stellte sich die Frage, ob der Computer den Bedarf für einen Lernkulturwandel erhöhe, andererseits bot der Computer auch Potenziale, die sich unter Umständen auch in der Bildung würden nutzen lassen. Damit entstand folgende 2x2-Matrix:

In diese Matrix lassen sich jetzt verschiedene mögliche Veränderung in der Schule einzeichnen. Da ist z.B. die von Jöran Muuß-Merholz als Katalysator-These (Biblionetz:w03176) bezeichnete Veränderung von einer alten, auf Behaviorismus beruhenden, papiergebundenen Schulkultur zu einer neuen, konstruktivistisch orientierten, digitalen Schulkultur - der Computer als agent of change sozusagen:

Eine Abwandlung davon ist die Trojaner-These (Biblionetz:w03177): Zwar beabsichtigen die InitiatorInnen eines Digitalisierungsprojekts in der Schule eventuell nur einen technologischen Wandel - die Geräte allerdings werden einen Lernkulturwandel erzwingen (weil sich z.B. zeigt, dass bei Frontalunterricht die beschaffte 1:1-Ausstattung eher stört als hilft):

Jöran Muuß-Merholz hat aber verschiedentlich darauf hingewiesen, dass digitale Medien schlicht nur die bestehende Lernkultur verstärken könnte: Wer eher behavioristisch unterwegs ist, wird bewusst oder unbewusst die entsprechenden Potenziale des Digitalen nutzen, um dies zu verstärken - wer konstruktivistisch unterwegs ist genau so. Die Verstärker-These (Biblionetz:w03178):

Philippe Wampfler macht sich schon länger Gedanken über die beiden möglicherweise entstehenden digitalen Schulkulturen. Er unterscheidet personalisierte Bildung und persönliche Bildung:

Setzt man die beiden Begriffe in die Matrix und fragt bei Philippe nach, wo er denn die traditionelle Bildung platzieren würde, so ergibt sich folgendes Bild

Ich verwende für die beiden digital geprägten Lernkulturen seit letztem Jahr die Begriffe Datadaktik und Digidaktik, weil sich die eine Kultur vor allem über die unermesslichen Möglichkeiten der Datenauswertung freut:

Beim Nachdenken über diese Matrix habe ich mir überlegt, welche anderen Bewegungen noch denkbar sind und sich auch beobachten lassen. Mindestens eine ist mir noch in den Sinn gekommen: Schulen, welche sich enttäuscht von einer datengesteuerten Lernkultur abwenden und bei dieser Gelegenheit den Computer als Ursache des Übels ausmachen und in der Folge darauf verzichten. Ob Backlash-These (Biblionetz:w03179) dafür ein geeigneter Begriff ist?

Tja, und aus all den Überlegungen ergibt sich dann diese Grafik, die man vermutlich ohne die obigen Überlegungen nicht so einfach versteht. Aber vielleicht hilft sie als Zusammenfassung oder als Ausgangspunkt spannender Diskussionen…

P.S: Weil ich bei den letzten Grafiken mehrfach danach gefragt worden bin: Ja, die Grafiken dürfen mit Quellenangabe gerne verwendet werden.

 
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Der grosse Wandel besteht aus vielen kleinen Wandeln

20 September 2020 - Version 2

Philipp Wampfler hat meine gestrige Grafik aufgenommen und begründet, warum er dafür plädiert, die digitale Entwicklung für abgeschlossen zu betrachten und deshalb von Digitalität und nicht mehr von Digitalisierung zu sprechen.

Ich verstehe seine Haltung für seinen aktuellen Kontext ("grösseres Konzept") absolut. Zu Recht wurde meine Grafik kritisiert als abstraktes Philosophieren, das die konkrete Arbeit im Schulalltag nicht wesentlich weiterbringe. In konkreten Projekten geht es darum, den aktuellen Zustand anzugehen und nicht eine schwammige, scheinbare ferne Zukunft zu diskutieren. Gewisse Aspekte des digitalen Wandels sind schlicht und einfach da - und das zum Teil seit Jahren. In diese Richtung geht auch meine Folie vom digitalen Besenwagen, die ich diese Woche erstmals gezeigt habe:


Quelle: Vortrag Digitalisieren Sie noch?

Es gilt zu akzeptieren, dass wir über gewisse Gegebenheiten nicht mehr diskutieren sollten: Eine Lehrperson, der basalste Kenntnisse des Umgangs mit digitalen Werkzeugen fehlt ("Wie erstellt man einen Ordner?", "Wie mache ich ein Fenster grösser?") ist nicht mehr in der Lage, Schülerinnen und Schüler auf die Welt von heute und morgen vorzubereiten! (Dabei geht es nicht nur um das fehlende Handling von Alltagswerkzeugen, sondern auch um das damit einhergehende Vermögen sich vorzustellen, was mit diesen Werkzeugen alles möglich ist und täglich gemacht wird).

Nicht einverstanden bin ich jedoch mit Wampflers Aussage, dass aus Sicht der Bildung der Leitmedienwechsel bereits abgeschlossen sei:

Der Leitmedienwechsel und die Digitalisierung sind in Bezug auf die Aspekte, die für Bildung wichtig sind, bereits erfolgt. Informationen stehen immer zuerst im Netz und werden dann auch noch in andere Medienformen übertragen. Daten werden digital erfasst. Ihre Verarbeitung erfolgt weitgehend automatisiert.
Quelle: schulesocialmedia.com

Aus meiner Sicht übersieht Philipp Wampfler mindestens die kommenden und am Horizont bereits aufscheinenden Veränderungen, die durch maschinelles Lernen (Biblionetz:w02863) denkbar sind - sowohl für die Gesamtgesellschaft als auch für den Bildungsbereich.

Mindestens im aktuellen Blogpost beschreibt Wampfler digitale Medien als blosse Wiedergabe- und Kommunikationsmedien:

Noch gibt es eine Post, die Briefe entgegennimmt und zustellt, obwohl eigentlich niemand mehr Briefe braucht. Das Medium Brief und das Medium digitale Nachricht existieren gleichzeitig. Das wird sich auch nicht ändern – Menschen werden nicht vergessen, dass man Briefe schreiben kann, sie werden es einfach weniger häufig tun, weil sie kaum noch das Bedürfnis dazu verspüren. Die Möglichkeiten, Botschaften im Netz verschicken zu können, wird dazu führen, dass Briefe und ihre Zustellung nicht mehr die Kernaufgabe der Post sein können, sondern von Zustelldiensten nebenher und möglicherweise als Luxusdienstleistung überbracht werden. Das ist eine Auswirkung einer Entwicklung. Eine weitere Auswirkung wird auch darin bestehen, amtlich verlässliche Formen des digitalen Schriftverkehrs zu etablieren. Dabei wird aber nicht eine neue mediale Ebene erschlossen oder eine echte Innovation benötigt: Alle Bausteine sind schon da, sie müssen nur noch eingesetzt und politisch durchgesetzt werden.

In dieser Beschreibung scheinen zwei grundlegende Funktionen von Digitaltechnik auf: Das Erfassen und Speichern sowie das Übermitteln und Verbreiten von Daten. Aus meiner Sicht übersieht Wampfler aber die dritte Grundfunktion von Computern: Das Verarbeiten von Daten:

Der Computer ist das erste Medium der Menschheitsgeschichte, das Daten nicht in etwa so wieder ausgibt, wie sie eingegeben bzw. geschrieben worden sind, sondern das Potenzial besitzt, die Daten zu verarbeiten und etwas ganz anderes auszugeben als eingegeben wurde. In meiner Wahrnehmung ist machine learning der aktuell verwendete (Hype-)Begriff, der dieses Phänomen zu beschreiben versucht.

Um bei Wampflers Beispiel zu bleiben: Wir werden die nächste Stufe im digitalen Wandel erreicht haben, wenn Computer Briefe selbst beantworten und wir zunehmend Mühe bekunden werden, computergeschriebene Texte von Menschen geschriebenen Texten zu unterscheiden. Derzeit sind die aktuellen Versuche meist noch leicht zu durchschauen und eher lächerlich. Auch wenn gewisse aktuelle Berichte (Biblionetz:t26403) zu GPT-3 (Biblionetz:w03164) vermutlich eher übertrieben (Biblionetz:t26404) sind, zeigen sie doch eine mögliche Richtung auf.

(Und natürlich ist GPT-3 nichts als das Ergebnis einiger grosser Rechner, welche den gesamten Inhalts des Internets mit Hilfe von schon seit Jahrzehnten bekannten Algorithmen (neuronale Netzwerke) verarbeiten - insofern gibt es nichts Neues unter der Sonne. Es dürfte aber klar sein, dass diese Bauteile erst mit der Leistungsfähigkeit aktueller Computer und der schieren Datenmenge des Internets und der sozialen Medien unter Umständen emergente Eigenschaften entwicklen werden, die bisher selten bedacht worden sind. In diesem Sinne ist es dann eben doch ein neuer Wandel, auch wenn sich dessen Anfänge 50 oder noch mehr Jahre zurückverfolgen lassen).

Mir geht es aber weniger darum, darüber zu streiten, ob jetzt machine learning den nächsten Wandel darstellt oder ob es sich nur um einen medialen Hype handelt. Ich bin aber ingesamt überzeugt davon, dass wir noch nicht am Ende des Digitalen Wandels angekommen sind. Da kommt noch mehr, das uns fordern wird.

Es gibt aber noch einen weiteren Grund, warum ich diese Diskussion nicht für abstraktes Philosophieren halte: Gerade in konkreten Diskussionen wie Philipp Wampfler sie beschreibt, bekomme ich öfters zu hören: "Aber wir sind schon digital unterwegs - wir müssen nichts mehr transformieren!" Da wird dann jeweils deutlich, dass der digitale Wandel aus vielen kleineneren Wandeln besteht und das Gegenüber stolz darauf ist, einen oder mehrere dieser kleinen Wandel bereits erfolgreich gemeistert zu haben. Wir müssen also auch in ganz konkreten Diskussionen aufzeigen, wo man in dieser Abfolge von Wandeln steht. Dass diese Abfolge noch nicht zu Ende ist, darf aber selbstverständlich kein Freipass sein zu sagen: "Wir müssen doch erst abwarten, wohin das alles führt!"

Ich habe versucht, in einer weiteren Grafik einige kleinere Wandel im grossen Wandel aufzuzeigen. Die konkrete Wahl bestimmter Begriffe ist bis zu einem gewissen Grad wahllos und irrelevant (bzw. das Hobby alter weisser Männer auf Twitter…). Meine Überlegung war: Welches waren Erfindungen/Entwicklunglen/Wandel, die mehr als einen gesellschaftlichen Bereich stark geprägt haben. Dabei bin ich auf die (vorläufige Abfolge Grossrechner, PC, Internet, social media, machine learning gekommen. Bereits vor der Entwicklung des ersten PCs sprach man von einer Informationsgesellschaft und überlegte sich die Folgen des zunehmenden Einsatzes von Grossrechnern auf Arbeitsplätze, Verwaltung und Politik. Aus meiner Sicht waren dann der PC, das Internet und die sozialen Medien weitere wichtige Zäsuren in dieser Entwicklung.

vielekleinewandel.jpg

Gerade weil es diese grossen und kleinen Wandel gibt, halte ich meine Grafiken für nicht ganz überflüssig. Mindestens mir helfen sie in Diskussion zu klären, worüber wir grad diskutieren.

 
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Digitalisierung, Digitalität & Co.

18 September 2020 - Version 6

Endlich habe ich eine Grafik gezeichnet, die ich bereits seit längerem mit mir herumtrage. Einmal mehr geht es um Begrifflichkeiten (ein Thema, das man auch als praxisfern bezeichnen kann, siehe Ach diese Begrifflichkeiten).

Die Grafik versucht, mein derzeitiges Verständnis verschiedener in aktuellen Bildungsdiskursen verwendeter Begriffe zu visualisieren:

digitalisierung-digitalitaet.jpg

In der Grafik verstecken sich u.a. folgende Sichtweisen:

  • Es gibt einen technischen Auslöser einer Veränderung: Durch Digitaltechnik werden Dinge möglich, die früher nicht oder nur massiv aufwändiger möglich waren. Diese Möglichkeiten verändern Handlungs- und Lebensweisen der Gesellschaft und führen so zu einem gesamtgesellschaftlichen Wandel.
  • Die Möglichkeiten der Digitaltechnik sind begrenzt. Irgendwann wird ihr Veränderungspotenzial erschöpft sein. Die Gesellschaft kommt in einen Zustand nach dem Wandel.

Jede Grafik vereinfacht (The map is not the territory, Biblionetz:a00009):

  • Digitaltechnik schafft Möglichkeiten. Individuen und Gesellschaft bestimmen aber massgeblich mit ob und wie diese Möglichkeiten genutzt und wie sie weiterentwickelt werden. Also gegenseitige Beeinflussung von Technologie und Gesellschaft, kein simpler Technikdeterminismus (Biblionetz:w02180).
    In der Grafik könnte somit statt Auslöser auch Ermöglicher stehen. Gefällt mir aber (noch) nicht, weil es für mich zu einseitig klingt.
    Zudem ist im Laufe der Entwicklung in bestimmten Kontexten digitale Technologie nicht mehr einfach nur eine Möglichkeit (take it or leave it), sondern aus gesellschaftlichen Gründen durchaus auch ein Zwang.
    Der letzte Aspekt, der mich dazu bringt, beim Begriff Auslöser zu bleiben: In meiner Wahrnehmung als Informatiker sind es nicht nur gesellschaftliche Entwicklungen. Ohne die technologische Basis wäre die Veränderung nicht möglich. Weil ich als Fachdidaktiker der Meinung bin, dass man bestimmte Aspekte der Digitaltechnolgie verstehen sollte, um ihr Veränderungspotenzial mindestens ansatzweise verstehen zu können, lege ich Wert darauf, dass es ein Auslöser ist. Wir reden über den ganzen Kram, weil Menschen den Computer entwickelt haben. Eine alternative Darstellung könnte auch so aussehen:
    coevolution.jpg

Die Grafik dient mir zu verschiedenen Zwecken:
  • Ich versuche damit, für mich selbst, meine Gedanken wieder einmal zu büscheln.
  • Ich provoziere durch die Grafik Widerspruch und lerne daran andere Sichtweisen zu erkennen und evtl. zu verstehen.
  • Ich versuche durch die Grafik das Einfache und Unwidersprochene beiseite legen zu können um danach auf Ungeklärtes fokussieren zu können.
  • Nach Abschluss dieser Prozesse hoffe ich anderen beim Nachdenken über das Thema helfen zu können.

Zu den zu diskutierenden Fragen gehören für mich mindestens:

  • Endet der digitale Wandel? In meiner Darstellung als S-Kurve endet der digitale Wandel irgendwann (in meiner Wahrnehmung, weil das Potenzial ausgeschöpft ist). Es gibt aber andere Stimmen die davon ausgehen, dass der Wandel künftig die einzige Konstante darstellen wird. Stimmt das? Welche Vorstellung ist hilfreicher beim Nachdenken über sinnvolle Handlungsweisen?

  • Wie lange dauert die Wandelphase? Wenn wir davon ausgehen, dass der digitale Wandel eine Phase mit Anfang und Ende darstellt, so ergibt sich daraus die Frage, wie wir die Phase zeitlich begrenzen. Und hier zeigen sich dann eben auch die Grenzen der Vereinfachung. Jenachdem, was ich verstehen oder erklären will, sind andere Grenzen sinnvoll. In meinem Verständnis hat die Phase angefangen mit den ersten Computern und endet erst, wenn sich das Innovationspotenzial der Digitaltechnologie erschöpft hat.
    In gewissen Teilaspekten ist die Digitalisierung aber bereits erfolgt. Digital ist das Leitmedium in sehr vielen Bereichen unserer Gesellschaft, es liesse sich also argumentieren, dass der digitale Leitmedienwechsel vorüber sei und wir besser vom Zustand der Postdigitalität sprechen würden.
    Für bestimmte Diskurse ist es wichtig, dass wir betonen, dass das Digitale (bereits seit längerem) da ist und nicht etwa in ferner Zukunft kommen wird (z.B. die Frage, wie lange neue Medien noch neu sind). In anderen Diskursen ist aber ebenso wichtig aufzuzeigen, dass die Entwicklung noch lange nicht vorbei ist, sondern wir erst am Anfang stehen. An vielen Orten in unsrer Gesellschaft nutzen wir Digitaltechnologie bisher nur zur Effizienzsteigerung alter Abläufe. Wir haben weder die technologischen Potenziale ausgeschöpft noch unsere Handlungsabläufe verändert (Im Bildungsbereich: Bisher gibt es praktisch keine digitalen Lehrmittel, die von Anfang an digital gedacht wurden, meist steckt gedanklich noch das gedruckte Lehrmittel dahinter; Die durch persönliche Geräte und übergreifende Plattformen immer zahlreicher verfügbaren Daten der Aktivitäten der Schülerinnen und Schüler werden bisher nur spärlich genutzt, datafication (Biblionetz:w03135) in education ist meist noch Zukunfts- oder höchstens Forschungsthema, aber noch nicht im Alltag angekommen).
    Ich denke hier über eine Darstellung nach, die zeigt, dass der grosse Wandel aus vielen kleinen Wandeln besteht:
    vielekleinewandel.jpg
    Die Schwierigkeit besteht hier einerseits darin zu entscheiden, welches denn genau die kleinen Wandel sind, die ich namentlich nennen will und andererseit zu entscheiden, wie weit wir denn in der S-Kurve des grossen Wandels bereits fortgeschritten sind: Wie viel kommt da noch?

  • Wo stehen wir heute? Diese Frage lässt sich nur beantworten, wenn man sich auf eine Antwort auf die Frage Wie lange dauert die Wandelphase? geeinigt hat.

  • Wird "Kultur der Digitalität" deskriptiv oder normativ verwendet?
    Wie sieht die Welt nach dem digitalen Wandel aus? Begriffe, die diesen Zustand beschreiben, können zweierlei Funktion haben. Sie können schlicht eine Name sein für einen irgendwie gearteten Zustand (deskriptiv) oder sie können auch einen Wunschzustand definieren (normativ). Insbesondere bei der "Kultur der Digitalität" gilt es in Diskussionen zu klären, wie der Begriff verwendet wird.

To be continued...

Eine erste Diskussion der Grafik hat sich bei Twitter ergeben.

 
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