The Sirens' Call
Das Konzept der Aufmerksamkeitsökonomie als Schlüssel zum Verständnis der heutigen Zeit

Beim digitalen Aufräumen zum Jahresende bin ich auf die Rezension Wider die neue Aufmerksamkeitsökonomie (Biblionetz:t33109) von Daniel Binswanger (Biblionetz:p10471) zum Buch The Sirens' Call (Biblionetz:b08986) vom Februar 2025 gestossen und habe in der Folge - und passend zum Thema des Buches... - beschlossen, das Buch ganz zu lesen, bevor ich wieder Social-Media-Kurzfutter konsumieren würde.

Die Lektüre hat mir ermöglicht, mich vertiefter mit dem Konzept der Aufmerksamkeitsökonomie (Biblionetz:w00502) auseinanderzusetzen, das ich zwar bereits 1999 im Biblionetz aufgenommen, aber seither nicht mehr gross beackert habe.

Ich finde das Buch insbesondere deshalb spannend, weil es mein berufliches Thema Leben in einer von digitalen Medien geprägten Welt und aktuelle (bedrohliche) politische Entwicklungen gleichzeitig behandelt.

Wovon handelt das Buch?

Chris Hayes unterteilt die Menschheitsgeschichte in die drei Epochen der Agrargesellschaft (Biblionetz:w02211), der Industriegesellschaft (Biblionetz:b02210) und der Aufmerksamkeitsgesellschaft (Biblionetz:w00502) (und nicht etwa Informationsgesellschaft). Für Hayes sind nicht Daten oder Information das prägende Element unserer Zeit, sondern die weiterhin rare, nicht beliebig ausdehnbare und deshalb wertvolle Ressource Aufmerksamkeit.

Hayes unterscheidet drei Arten der Aufmerksamkeit (auch wenn er darauf hinweist, dass das Konzept "Aufmerksamkeit" z.B. in der Psychologie sehr kontrovers behandelt werde):
  • Willkürliche Aufmerksamkeit: (Biblionetz:w03747) Fokus, den ich als Mensch willentlich setze, um mich auf etwas zu konzentrieren und anderes aufzublenden.
  • Unwillkürliche Aufmerksamkeit: (Biblionetz:w03748) Aufmerksamkeit, gegen die ich mich nicht wehren kann, sondern reflexartig erfolgt (z.B. durch einen lauten Knall).
  • Soziale Aufmerksamkeit: (Biblionetz:w03749) Aufmerksamkeit, die ich einem anderen Menschen widme.

Oder ausführlicher in den Worten des Autors:

Es gibt drei Hauptaspekte der Aufmerksamkeit, deren grundlegende Dynamiken sich in den oben beschriebenen Cocktailparty-Beispielen deutlich zeigen.

  • Erstens die willkürliche Aufmerksamkeit, das gezielte Lenken unseres Fokus, bei dem das geistige Scheinwerferlicht auf etwas Bestimmtes gerichtet wird, das dadurch hervorgehoben wird, während alles außerhalb dieses Lichtkegels relativ im Dunkeln bleibt.
  • Dann gibt es die unwillkürliche Aufmerksamkeit, die ständig parallel zur bewussten Aufmerksamkeit arbeitet, unsere Umgebung auf Bedrohungen und Störungen überwacht und unseren bewussten Fokus gelegentlich auf etwas anderes richtet oder ihn sogar vollständig übernimmt.
  • Und schließlich gibt es die soziale Aufmerksamkeit: die Tatsache, dass wir selbst zum Gegenstand der Aufmerksamkeit anderer werden können, und die unausweichliche Wahrheit, dass diese Erfahrung zu den grundlegendsten Formen menschlicher Bindung gehört. Wir richten unsere Aufmerksamkeit auch auf andere, und diese Form sozialer Aufmerksamkeit, der gegenseitige Austausch von Aufmerksamkeit mit anderen Menschen, bildet die kovalente Bindung menschlicher Sozialität. Wir denken an andere Menschen, und andere Menschen denken an uns, und ein ganzes Leben entfaltet sich innerhalb dieses gedanklichen Kreislaufs.

Insbesondere für soziale Medien fand ich das Konzept Soziale Aufmerksamkeit von Fremden (Biblionetz:w03750) spannend. Chris Hayes beschreibt u.a. die entstehende Asymmetrie zwischen prominenten Menschen und ihren Fans / Followern und den unerfüllbaren Erwartungen derartiger Aufmerksamkeit und erklärt das Konzept u.a. an Elon Musk (Biblionetz:p25665), der sich Twitter (Biblionetz:w02116) gekauft hat im Versuch, Aufmerksamkeit von Fremden zu erhalten.

Daran schliesst sich die Erkenntnis an, dass es massiv einfacher ist, die Aufmerksamkeit anderer Menschen zu erregen, als sie über längere Zeit aufrechtzuerhalten (Biblionetz:a01579), was sowohl das Vorgehen von Boulevard-Medien als auch von Donald Trump (Biblionetz:p17141) erklären kann und uns gleichzeitig vor ein Dilemma stellt:

Aufmerksamkeit zu erregen, also sie zu erlangen, ist viel einfacher, als sie auf Dauer zu halten, denn für Ersteres braucht man keinen Zugang zu den tiefen Geheimnissen der menschlichen Seele. Deshalb neigen wettbewerbsorientierte Aufmerksamkeitsmärkte dazu, sich dem Spielautomatenmodell zuzuwenden.

Ich habe mehr als acht Jahre meines kostbaren Lebens damit verbracht, praktisch in Vollzeit über Donald Trump zu berichten. Er ist keine Person, über die man freiwillig so lange nachdenken will. Was seine Präsenz in unserer nationalen Psyche so unerträglich und erschöpfend macht, ist das ständige Bewusstsein, dass man ihm ‒ indem man ihm Aufmerksamkeit widmet ‒ genau das gibt, was er will. Und doch tut er Dinge, die man nicht ignorieren kann: etwa der Versuch, die konstitutionelle Republik Amerikas zu stürzen. Er versucht, Zeugen und Richter einzuschüchtern, er bezeichnet Einwanderer als Gift und seine politischen Gegner als Ungeziefer, er sinniert lautstark über eine Art postdemokratischen Plan für ein autoritäres Amerika. Das kann man nicht einfach ignorieren, wenn man sich (wie ich) für den Erhalt unserer demokratischen und verfassungsmäßigen Ordnung einsetzt und beruflich über Neuigkeiten berichtet und versucht, die Aufmerksamkeit der Menschen dorthin zu lenken, wo sie der eigenen Ansicht nach hingehört.

Was mir am Buch gefallen hat

  • Sachkenntnis des Autors: Der Autor Chris Hayes ist Starmoderator beim US-amerikanischen Fernsehsender MSNBC und somit selbst im Aufmerksamkeitsbusiness tätig. An verschiedenen Stellen im Buch merkt man, dass er weiss, wovon er schreibt und insbesondere die kommerziellen Aspekte und Dilemmata der Aufmerksamkeitsökonomie kennt.
  • Kein Aussteiger-Bekenntnis: Das Buch ist kein Schuldeingeständnis eines Aussteigers, der sich vom Saulus zum Paulus gewandelt hat und nun über die bösen Techniken berichtet, die er in seinem früheren Leben kennengelernt und auch selbst angewendet hat.
  • Bescheidenheit des Autors: Der Autor stellt weder seine Person noch seine Taten und Meinungen in den Vordergrund, sondern schreibt mit einer gewissen Bescheidenheit.
  • Entwicklungen statt Schwarz-Weiss-Bilder: Der Autor zeigt auf, wie sich die Menschheit in der Vergangenheit entwickelt hat und Technologien und Gesellschaftsmodelle sie verändert haben. Dabei begreift er die aktuelle Situation als (gefährliche) Entwicklung, verklärt aber nicht die Vergangenheit und weist explizit auf die moralische Panik (Biblionetz:w03746) hin, die bereits bei Sokrates und Goethe zu beobachten war.
  • Keine simplen Rezepte oder Schuldzuweisungen: Im Buch werden keine übervereinfachende Rezepte vorgeschlagen oder Schuldzuweisungen vorgenommen. Damit hebt es sich von anderen Büchern ab, die einen praktisch dauernd anschreien mit ihrem alarmistischen Tonfall.

Zusammenfassend: Das Buch formuliert Probleme und Herausforderungen ernsthaft und deutlich aber unaufgeregt. Das ist wohltuend in einer Zeit, wo sonst primär geschrien wird - eben um Aufmerksamkeit gerungen wird.

Was mir das Buch deutlich gemacht hat / Was ich gelernt habe

  • Ich habe mich wieder mal intensiver mit dem Konzept der Aufmerksamkeitsökonomie beschäftigt. Es hilft mir, gewisse Dinge besser zu verstehen.
  • Mir hat die Unterscheidung zwischen willkürlicher, unwillkürlicher und sozialer Aufmerksamkeit beim eigenen Denken geholfen, insbesondere auch der Spezialfall der Aufmerksamkeit von Fremden
  • Ich habe den Begriff Moralische Panik (Biblionetz:w03746) ins Biblionetz aufgenommen - ein Konzept, das mir zwar seit 30 Jahren im beruflichen Kontext sehr wohl bekannt ist, bisher aber nicht in meinem aktiven (Biblionetz-)Wortschatz vertreten war. In den im Biblionetz gespeicherten Texten taucht es aber sehr wohl auf:

Was mich enttäuscht hat

Die Enttäuschung des Buches ist vermutlich die Kehrseite dessen, was ich weiter oben als positive Aspekte des Buches beschrieben habe - dass Chris Hayes eben keine übervereinfachte Rezepte vorschlägt. Das abschliessende Kapitel Die Rückeroberung unseres freien Geistes des Buches ist vergleichsweise kurz und bietet zumindest mir wenig. Zurück zu gedruckter Zeitung und Schallplatte ist mir etwas dürftig als Strategie in unserer heutigen Zeit. Das mag für einzelne Individuen mit genügend Zeit und Musse funktionieren, hilft aber beispielsweise wenig bei der Herausforderung, wie Demokratien in einer Aufmerksamkeitsgesellschaft überleben können, wenn lautes Schreien statt Argumente gewinnen. Hier hätte ich mir differenziertere Aussagen erhofft, die z.B. auch verschiedene Stakeholder betreffen.

Dass die Auswirkungen von generativen Machine-Learning-Systemen (GMLS) (Biblionetz:w02833) nur am Rande des Buches gestreift werden, ist zwar ebenfalls schade, kann ich aber besser verschmerzen: Das Thema ist so neu, dass ich Verständnis dafür habe, dass man noch keine Strategien oder Rezepte zur Hand hat. Hier ist nun eigenes Weiterdenken notwendig, was denn diese Etappe des digitalen Leitmedienwechsels bezüglich Aufmerksamkeitsökonomie für Chancen und Herausforderungen bietet (Das Blasebalg-Phänomen (Biblionetz:w03751), dass Menschen GMLS sowohl zum Verfassen als auch zum Konsumieren von Mitteilungen nutzen, wird im Buch bereits thematisiert).

Kontakt

  • Beat Döbeli Honegger
  • Plattenstrasse 80
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  • E-mail: beat@doebe.li
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