Schul-ICT

Korreliert die Bildschirmgrösse mit der Produktivität?

02 October 2012 | Beat Döbeli Honegger | Schul-ICT

%STARTBLOG% Als Antwort auf mein Posting Die Masterarbeit mit dem Smartphone schreiben wurde ich von @sarahfrederickx gefragt, warum mir denn ein Tablet zum Arbeiten nicht reichen würde. Meine kurze Antwort, ich bräuchte mehr als serielles Multitasking hat nicht gereicht, darum versuchte ich es in den nächsten 140 Zeichen mit

@sarahfrederickx Wenn ich einen Artikel schreibe: Ein oder mehrere Fenster mit Quellen, eines mit dem zu schreibenden Artikel.

Was wiederum Sarah Fredrickx zu folgendem bewegte:

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Für mich ist damit der Zeitpunkt erreicht, wo 140 Zeichen zum Antworten nicht mehr reichen und das passt ja bestens zur Frage, warum mir manchmal kleine Bildschirme zum Arbeiten nicht reichen und ich schneller bin, wenn ich mehrere Fenster sehe und multitasken kann.

Warum habe ich das Gefühl, mit mehreren Fenstern schneller zu sein als wenn ich auf einem Tablet (oder sonstigen Computer) Taskswitchen müsste:

  • Beim Taskswitchen benötigt man bis heute mindestens eine Hand (Tastatur, Maus oder touch screen). Erfolgt der taskswitch nicht per Tastatur, muss somit die Hand von der Tastatur entfernt werden. Es dauert damit länger, bis die Hand wieder zurück auf der Tastatur an der richtigen Position ist. Klar, dauert nicht lange. Stört mich aber.

  • Habe ich mehrere Fenster im Blick, so kann ich durchaus ein Fenster lesen, während ich ein einem anderen tippe, sei dies eine Zusammenfassung oder eine Antwort auf den Text im ersten Fenster. Das geht bisher z.B. mit einem iPad nicht.

  • Mein Gedächtnis ist räumlich sozialisiert. Ich weiss oft von einem Buch, dass die gesuchte Passage unten links steht (das wird mir vermutlich bei e-Books noch Kopfschmerzen bereiten...). Wenn ich bei einer Arbeit mehrere Quellen vor mir habe, dann weiss mein Kurzzeitgedächtnis relativ gut, welche Quelle auf welchem Bildschirm zu finden ist. Müsste ich task-switchen, so müsste ich mir im Kopf die Reihenfolge der verschiedenen tasks merken oder aber beim switchen immer erst schauen, ob ich nun das gesuchte Fenster erreicht habe. Cognitive load... Vielleicht Übungssache, weiss ich noch nicht.
Spannende Frage, habe darum mal im Biblionetz (ein weiteres offenes Fenster...) angefangen, Quellen zur Frage Korreliert die Bildschirmgrösse mit der Produktivität? (Biblionetz:f00152) zu sammeln. Noch hat der entsprechende Zitationsgraph auf einem Smartphone-Bildschirm Platz, aber wie lange noch? wink

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Mit Tablets Lesen und Schreiben lernen

04 September 2012 | Beat Döbeli Honegger | Medienbericht, Schul-ICT
In diesen Tagen geistert eine Agenturmeldung durch viele Medien, dass in einem Vorort von Stockholm drei Schulklassen mit iPads ausgestattet würden, weil die Kinder damit besser Lesen und Schreiben lernen könnten. Siehe:

Die Agenturmeldung weist zwar auf eine wichtige Entwicklung hin, ist aber trotzdem in mehrfacher Sicht ärgerlich. Dabei ist es nicht die Verwechslung von Tablets mit Tablet PCs (Biblionetz:a01108), die mich besonders stört (daran muss ich mich vermutlich gewöhnen), sondern die Entweder-Oder-Haltung, die sowohl von den Befürwortern als auch den Kritikern dieses Projekt anklingt:

  • Laut Agentur-Meldung sollen mit dem Projekt Schulbücher abgeschafft werden:
    Entweder Tablets oder Schulbücher.
  • Laut Agentur-Meldung wehrt sich der Schwedische Minister gegen die Abschaffung der Handschrift.
    Entweder Schreiben am Computer oder Schreiben von Hand.
Rhetorisch handelt es sich um falsche Dilemmata (Biblionetz:w02142), indem davon ausgegangen wird, dass es nur zwei Varianten gäbe: Entweder - oder. Es gibt aber auch eine dritte Variante: Sowohl als auch.

Zudem scheint es sich im zweiten Fall auch um ein Strohmann-Argument (Biblionetz:w02156) zu handeln: Das Projekt will (zumindest laut Agenturmeldung) die Handschrift ja nicht abschaffen. Es wird also etwas kritisiert, das so gar nicht gefordert bzw. versucht wird.

Seit dem iPhone-Projekt ärgere ich mich zunehmen über solche Entweder-Oder Diskussionen. Sie scheinen mir realitätsfremd und destruktiv. Siehe dazu auch mein Posting Der Kampf gegen die Entweder-Oder-Wahrnehmung vom Februar 2011.

So, das war der allgemeine rant, nun zur konkreten Thematik. Einsatz von Computern zum Schriftspracherwerb. (Biblionetz:a00673) Einmal mehr: Das ist ja nichts neues. Die Diskussion, ob man mit Computern das Lesen- und insbesondere Schreiben lernen fördern könne, ist mindestens 15 Jahre alt, selbst im deutschen Sprachraum. Gerne zitiere ich aus dem Artikel Der Computer als Herausforderung zum Nachdenken über schriftsprachliches Lernen und Schreibkultur in der Grundschule (Biblionetz:t05998) von Barbara Kochan (Biblionetz:b03617), denn viel Wesentliches wurde bereits 1996 geschrieben:

Befürchtungen wie: die Kinder würden, verwöhnt durch bequemes Tippen, nicht mehr lernen wollen, mit der Hand zu schreiben; die Handschrift würde unter dem Tippen leiden; die Kinder würden schließlich das Schreiben meiden, wenn ihnen kein Computer verfügbar ist - solche Befürchtungen wurden in der Praxis nicht bestätigt. Auch nicht in England, wo die Kinder in einigen Klassen die Tastatur benutzen, bevor sie mit der Hand schreiben lernen.

und

Oft wird gegen das maschinenschriftliche Schreiben (in der Grundschule) eingewendet, daß die Handschrift als Persönlichkeitsausdruck viel wertvoller ist. Richtig! Aber: Bislang hat die Schule diesen Wert alles andere als respektiert. Normeinhaltung und eine von Erwachsenen bestimmte Ästhetik sind vielfach die Maßstäbe, nach denen Kinderhandschriften (auch in Form von Zensuren) kritisiert werden - ohne Respekt vor der Persönlichkeit, die sich in einer jeden (also auch in einer "schlechten") Handschrift ausdrückt. Die Maschinenschrift bietet - so gesehen - den Kindern eine Möglichkeit, sich Diskriminierungen ihrer Handschrift (und damit ihrer Person) zu entziehen.

Ebenfalls in die gleiche Richtung zielt das Fazit eines Projekts von Elke Schröter im Artikel Der Beitrag des Schreibwerkzeugs Computer zur Herausbildung von Schreib- und Lesekompetenz jüngerer Kinder (Biblionetz:t06030) von 1997:

Unsere Erfahrungen mit den Projektklassen belegen zweifelsfrei, dass sich mit dem Einsatz der Textverarbeitung im Unterricht vom ersten Schultag an, die beim Schreiben mit der Hand erforderliche Gleichzeitigkeit der Bewältigung mehrerer Subprozesse in ein von den individuellen Kompetenzen des Kindes bestimmtes viel leichter zu bewältigendes Nacheinander auflösen lässt.

So, und 1997 hatte man noch den Gegensatz von Tastaturschreiben am Computer (Biblionetz:w01911) und Handschrift mit Stift (Biblionetz:w02259). Sowohl mit Tablet-PCs als auch mit Tablets ist dieser Gegensatz aufgeweicht: Auch am Computer lässt sich mit Finger oder Schrift von Hand schreiben!

Spätestens, seit es Apps zum Schriftspracherwerb gibt, bei denen das Schreiben von Hand erlernt werden kann und der Computer die Buchstaben auch hörbar machen kann, muss man schon genauer hinschauen, bevor über Sinn oder Unsinn des Computereinsatzes zum Schriftspracherwerb geurteilt werden kann.

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iPad-App Erstes Schreiben, erstes Lesen

Wenn es bereits eine Schriftspracherwerbs-App nach Montessori-Methode gibt (derzeit erst englisch), dann kann die Diskussion ja nicht mehr so schwarz-weiss sein:

schriftspracherwerb-02.jpg
iPad-App Intro to Letters

Das Sowohl-Auch-Amen von heute stammt von Lisa Rosa:

Was die pädagogische Praxis angeht, kann man sicher nix falsch machen, wenn man alles ermöglicht und als Lehrer mit allem umgeht und die Kinder daran beteiligt. (CC-BY-SA)

So sei es smile


Main.LisaRosa meint:

wunderbar, lieber Beat!

Aber trotzdem möchte ich noch was anmerken:

"Schulbücher" sind ja ein ganz spezielles Medium. Erst mal haben sie gar nichts mit Handschrift zu tun (Handschrift ist Stift und Papier, und das wollten die iPad-Schweden ja nicht abschaffen, oder?). Zweitens: "Schulbücher" sind nicht wie normale wissenschaftliche oder literarische Bücher. Es sind "lehrbücher", in der Buchgesellschaft und ihren Lehranstalten entstanden zum systematischen "Buchlernen", das (Giesecke hat es nachgewiesen) das Erfahrungslernen zugunsten des systematischen Lernens von vermeintlich objektiven Wahrheiten abgewertet hat.

Schülbücher existieren nicht einzeln. Es gibt sie im Klassensatz oder im Jahrgangssatz, und sie sind schweinemäßig teuer. Wenn ein Schulbuch mal eingeführt (vom Staat abgenickt) ist, dann ist Garantie auf Großabsatz gesichert. (Marktmechanismen außer Kraft).

Wenn wir nun tablets und Laptops und WLAN in den Bildungsinstitutionen brauchen - und zwar für alle und jederzeit und for free - dann können wir uns das gleichzeitige Weitermitführen solcher Möchtegernobjektivewahrheitverkündungswerke in Klassensatzstärke wahrscheinlich nicht mehr leisten. Vielleicht ein Exemplar zum Nachschlagen, wie etwas vor 3 - 10 Jahren gesehen wurde aus Sicht der Schulweisheit - ok.

Und sonst: Bücher soviel wie möglich: der ganze Shakespeare, der ganze Freud, Marx, Thomas Mann, die ganze Astrid Lingren, alle Was-ist-was-Bücher und Anleitungen zum Programmieren, was auch immer! - Aber keine "Schulbücher" mehr.

-- Main.LisaRosa - 02 Feb 2012

-- Main.ChristianFueller - 04 Feb 2012

starker text mit wichtigen hinweisen - und einem geradezu banalen Schluss: alle sollen im unterricht alles machen dann wird alles gut - irgendwie. d.h, das künstliche Dilemma Nummer 2, das beat anspricht, ist gar keines: die verbundene Handschrift wird de facto abgeschafft, jedenfalls wird sie nicht mehr gelehrt.

wozu argumentiert man viele Absätze lang differenziert, um dann anything goes zu enden?

und es gibt noch eine wichtige Ergänzung: die situation ist ja nun mal anders, als beschrieben. es gibt nämlich ziemlich konkrete Pläne, die gebundene Schreibschrift aus der schule zu verbannen. der grundschulverband, eine schlagkräftige lobbyorganisation, hat gratis give aways anfertigen lassen, um die schulen in ein neues verfahren des schreibenlernens zu ziehen - das nichtlernen. Grundschüler sollen sich künftig selber beibringen, wie sie Buchstaben verknüpfen. das ist geradeso als wollte man die Interpretation der Verkehrsregeln freistellen: der eine stoppt bei grün, der andere bei gelb.

-- Main.ChristianFueller - 04 Feb 2012 Die anscheinend in Deutschland gehegte Absicht, gebundene Handschrift abszuschaffen (mir als Schweizer bisher nicht bekannt) ist aber nicht das Gleiche, wie die Handschrift insgesamt abzuschaffen...

-- Main.BeatDoebeli - 04 Sep 2012

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Bring your own Access Point

29 August 2012 | Beat Döbeli Honegger | Gadget, Schul-ICT
Sorry, bereits wieder ein Hardware-Posting. Es ist nichts neues mehr, dass man aus jedem vernünftigen Smartphone einen Access Point machen kann. Somit sind mobile Access Points nichts wirklich aufregendes mehr. Da ich mich aber immer wieder aufrege, dass es an Orten wo ich mich aufhalte zwar vernünftiges Kabel-Internet, aber kein - oder mindestens kein vernünftiges - WLAN hat, habe ich mir nun einen kleinen mobilen Access Point zugelegt, den ich ab sofort immer im Rucksack haben werde und bei Bedarf zücken und einstecken kann.

tl-wr702n.jpg

Das TL-WR702N genannte Teil ist 5.7 x 5.7 cm gross und 1.8 cm hoch, wird per USB mit Strom versorgt (entsprechendes Netzteil wird mitgeliefert), funkt mit 802.11b/g/n, kann als Router, Access Point, Bridge oder Client betrieben und per Webinterface konfiguriert werden und kostet CHF 34.-

Bei dem Preis läuft das schon fast unter Verbrauchsmaterial smile

Als nächstes steht der Test an, ob das Teil auch 20 Studierende aushält, die gleichzeitig surfen wollen.

Update 16.04.12: Ich muss bereits ein neues Exemplar kaufen, da es mir ein Dozent nach der Demonstration nicht mehr zurückgeben wollte. Warum habe ich ihm auch den wahren Preis genannt … wink

Update 18.04.12: Bei Microspot kostet das Teil gar nur CHF 20.65 inkl. Versand.

Update 31.05.12: Microspot hat den Preis auf CHF 58.- erhöht! Nun ist Digitec mit 33.- wieder klar günstiger.

Update: Warum noch teure Access-Points für Schulen?

Unter anderem ausgelöst durch dieses Posting entstand die Diskussion, warum Schulen denn noch teure Access Points kaufen müssten, wenn ja bereits Geräte für CHF 34.- verfügbar seien. Hier ein paar Argumente, warum das eben doch zwei paar Schuhe sind und professionelle, fix installierte Access Points in Schulen massiv mehr kosten:

  • Noch ist unklar, wie viele Clients dieser Nano-AP managen kann. Sollte er nach 5 Clients schlapp machen, dann eignet er sich für Home-User und Kleinsitzungen, nicht aber für Schulklassen und Seminargruppen.
  • Solche Kleingeräte sind nicht managebar. Sie haben "nur" ein Webinterface. Wenn dann 70 solcher Geräte zu administrieren sind.. (Erstaunlicherweise beherrscht aber selbst das 34.- Gerät eine User-Authentication per RADIUS-Server.)
  • Solche Kleingeräte haben keine Lieferbarkeitsgarantie über einen längeren Zeitraum. Vielleicht gibt es das Modell in 3 Monaten nicht mehr. In grösseren Schulen führt das zu einem Gerätezoo. Kann mühsam werden zum administrieren.
  • Solche Geräte sprechen sich untereinander nicht ab (Roaming, Funkkanal etc.)
  • Solche Geräte passen ihre Funkleistung nicht dynamisch an. Zusammen mit dem letzten Punkt kann dies zu unnötiger Strahlenbelastung führen.

Update: Konkurrenz-Produkt

Seit neuestem gibt es weitere Produkte mit ähnlichen Eigenschaften. Siehe dazu das Posting Die Wolke in der Hosentasche

-- Main.BeatDoebeli - 29 Aug 2012

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Lauter neue One-to-One-Projekte

17 July 2012 | Beat Döbeli Honegger | Schul-ICT
Die Sommerferien sind da, in den Schulen ist es ruhig. Doch halt, hinter den Kulissen bewegt sich etwas: An vielen Schulen wird im Hintergrund (und im Untergrund) eifrig gewerkelt und vorbereitet. Zu Beginn des neuen Schuljahrs beginnen vielerort neue 1:1-Projekte (Biblionetz:w02173). An anderen Orten werden zwar nicht nach den Sommerferien Geräte verteilt, aber neue Arbeitsgruppen nehmen ihre Arbeit auf und planen Projekte für Anfang 2013 oder bereits für das Schuljahr 2013/14.

Vor etwas weniger als einem Jahr habe auf der Website http://1to1learning.ch angefangen, entsprechende Projekte zu sammeln. Aktuell sind im Wiki 136 Projekte zu finden. Ich habe die Sommerpause genutzt, um das Wiki etwas aufzuräumen und die Startseite etwas zu verdichten:

onetoone2012.jpg

Mein Fazit nach ca. einem Jahr Betrieb der Plattform:
  • Ausser mir trägt praktisch niemand etwas zur Plattform bei. Gefühlte 90% der Inhalte habe ich selbst zusammengetragen. Es ist ein Wiki. Nach einer Registration könnten alle neue Projekte eintragen oder bei bestehenden Projekten zusätzliche Informationen anfügen. Das macht aber praktisch niemand. Ich kann damit leben, ich kann die Plattform auch für mich selbst nutzen. Diese Erfahrung ist für mich aber relevant, wenn mir wieder mal jemand von einer webbasierten Informationssammlung vorschwärmt, bei der alle ganz einfach Informationen beisteuern könnten. Könnten ja - aber warum sollen sie?
  • Genutzt wird die Plattform. Ich werde verschiedentlich darauf angesprochen, soweit ich es überblicke ist es die grösste und aktuellste derartige Sammlung, die zudem nicht von einer bestimmten Firma betrieben und/oder unterstützt wird.

Trotz des obigen Fazits: Weiterhin sind selbstverständlich alle eingeladen bzw. aufgerufen, neue 1:1-Projekte einzutragen smile

%STARTBLOG% Gestern (24.06.12) ist in der Sonntagszeitung der Artikel Gerangel im E-Book-Markt für Schweizer Schulbücher (Biblionetz:t14089) erschienen. Da ich gestern und heute mehrfach auf den Artikel angesprochen worden bin, hier einige Überlegungen aus meiner Perspektive.

t14089.jpg

Der Artikel versucht in Kürze die aktuelle Situation auf dem Schweizer Lehrmittelmarkt zu beschreiben. Ich beschäftige mich nun auch schon seit zwei Jahren mit digitalen Lehrmitteln in der Schweiz. Trotzdem würde es mir nicht gelingen, auf so kleinem Raum die Situation allgemein verständlich und ohne sinnverkehrende Verkürzungen zu beschreiben. Ich habe den Verdacht, dass es dem Artikel auch nicht so ganz gelingt.

eBooks, eLehrmittel, Apps, digitale Lehrmittel, elektronische Lehrmittel ?

Der Artikel verwendet verschiedenste Bezeichnungen für Lehrmittel, die nicht in Papierform vertrieben werden, erklärt aber mit einer Ausnahme nicht, was damit gemeint ist:

Die Nase vorn haben private Verlage, die Produkte für die Stufe Sek 2 herstellen, etwa der Zürcher Verlag Compendio oder Hep in Bern. Sie bieten elektronische Lehrmittel und Apps an, Hep auch ein iBook und ab Sommer ein erstes «E-Lehrmittel» , das ganz digital fürs iPad oder Windows/Mac ist.

In der Volksschule ist der Anteil an digitalen Lehrmitteln geringer: Es existieren einige «enhanced E-Books», also digitale Ergänzungen und Apps zu gedruckten Lehrbüchern.

Hier werden sowohl Produkte beschrieben, welche Lehrmittel auf Papier ersetzen als auch ergänzen sollen. Solche die praktisch ein Abbild des Papierexemplars sein werden und solche die massiv mehr oder andere Funktionen und Inhalte anbieten werden (multimediale und interaktive Inhalte, die ein Papierlehrmittel nicht bieten kann).

Eine zentrale Lösung?

Bereits hier ist die Forderung

Dabei wäre eine zentrale Lösung dringend nötig, wenn E-Lehrmittel kundenfreundlich werden sollen.

schwierig zu erfüllen. Auch sonst ist mir dieser Satz nicht sehr geheuer:

  • "Kundenfreundlich?" Wer ist denn der Kunde? Die Person, die das Lehrmittel nutzt (Lehrperson, SchülerIn?) oder die Person oder Organisation die das Lehrmittel bezahlt (je nach Schulstufe und Kanton ist dies der Kanton, die Gemeinde, die Eltern oder die Lernenden). Auch das zeigt, dass sich vermutlich keine einheitliche Lösung finden lässt, solange Lehrmittel so unterschiedlich finanziert werden.

  • Ist für Usability wirklich "eine zentrale Lösung" notwendig oder wären es nicht eher offene Standards? Damit nicht jedes Lehrmittel anders bezahlt, bezogen und gehandhabt werden muss, ist nicht zwingend eine zentrale Verkaufsstelle notwendig. Sondern es wären offene Standards notwendig, die das Handling in sinnvoller Art und Weise regeln.
    Das Internet (von Facebook mal abgesehen...) kommt auch nicht aus einer Hand, aber es funktioniert recht gut, weil sich die meisten Anbieter nicht nur an technische Standards halten, sondern auch an geschriebene und ungeschriebene Usability-Standards).

educa.ch ?

Im Artikel wird educa.ch als Alternative zu einer neuen Plattform ins Spiel gebracht:

Als weitere Alternative steht das Schweizer Medieninstitut für Bildung und Kultur Educa.ch zur Diskussion. Es betreibt den schweizerischen Bildungsserver, den 90 Prozent der Schweizer Schulen nutzen. «Es stellt sich die Frage, ob es neben dem Bildungsserver, den die Kantone bereits teuer bezahlen, noch eine zweite Schweizer Plattform braucht», sagt Peter Uhr, Geschäftsleiter des Schulverlags Plus.

Hier übersieht der Artikel das Potenzial heutiger Informatiklösungen, die durch standardisierten Datenaustausch auch nicht zentralisierte Lösungen ermöglicht. So wie man heute sein Facebook-Konto oder Google-Konto auch zum Anmelden bei gewissen Webdiensten anderer Unternehmen nutzen kann, so lässt sich das bestehende educanet2-Konto heute theoretisch unter dem Namen educa-ID als Login für andere Dienste nutzen (wenn diese das erlauben). Es wäre somit denkbar, eine Schweizer Lehrmittel-Plattform aufzubauen, die keine eigene Userverwaltung aufbauen, sondern diejenige von educanet2 nutzen würde.

Dann würde der Passus "den Schweizerische Bildungsserver, den 90 Prozent der Schweizer Schulen nutzen." relevant.

Doch was ist mit den 90% gemeint? Geht es um die Informationsplattform educa.ch oder geht es um die Lernplattform http://educanet2.ch (Biblionetz:w01711) ?

Das Institut für Medien und Schule (IMS) hat im Auftrag von BBT und EDK im Mai 2011 eine gross angelegte Online-Umfrage zu educa.ch PDF-Dokument (Biblionetz:t13957) durchgeführt. Aus der Zusammenfassung:

Ein überraschendes Ergebnis der Umfrage ist, dass die meisten Angebote des Schweizerischen Bildungsservers einem grossen Teil der Befragten unbekannt sind. Nur 63% der befragten Personen kennen das Informationsportal www.educa.ch und nur 39% nutzen es zumindest gelegentlich. Verbreitet sind vor allem die Möglichkeiten zum Austausch von Unterrichtsmaterialien. Der Bekanntheitsgrad und die Nutzung vieler anderer Angebote des Bildungsservers ist beträchtlich geringer. Eine Ausnahme bildet allerdings die Lernplattform educanet². Sie ist 78% der befragten Personen ein Begriff und wird von 53% zumindest gelegentlich genutzt.

Wahrscheinlich scheint mir, dass die 90% aus folgendem Zitat stammen:

Im Mittel machen 48% der Schweizer Schulen Gebrauch von einer solchen Lernplattform (vgl. Abbildung 18). Die Nutzungsquote ist auf Volksschulstufe in der Romandie deutlich höher als in der Deutschschweiz. Unter den Schulen, die eine Plattform verwenden, nutzen 91,7% educanet2, die Lernplattform des schweizerischen Bildungsservers. 4,8% verwenden Moodle, 3,2% BSCW, 1,6% Ilias, 0,7% Claroline und 8,3% machen von anderen Plattformen Gebrauch (Mehrfachnennungen möglich).
Quelle: Barras, J-L. & Petko, D. Computer und Internet in Schweizer Schulen, Bestandsaufnahme und Entwicklung von 2001 bis 2007 (Biblionetz:t07870)

Ja, 91.7% der Schulen, die eine Lernplattform nutzen, nutzen educanet2. Aber nur 48% der Schweizer Schulen nutzten 2007 eine Lernplattform...

Apples Kulanz?

Ein weiterer Punkt im Artikel, auf den ich heute mehrfach angesprochen worden bin, ist die Haltung von Apple gegenüber Lehrmittelverlagen beziehungsweise Schulen und Lernenden:

In den Verhandlungen zeige sich der Konzern kulant. Die Verleger berichten von Spezialabkommen: So müssen Apps für Schulklassen nicht über den App-Store gekauft werden, weil Schüler keinen Kreditkarten-Account haben; Apple zwacke dann auch nicht die gewohnten 30 Prozent pro iBook oder App ab, was die Verlage zu schätzen wissen.

Mir wäre nichts über derartige Sonderkonditionen bekannt, ich lasse mich aber gerne eines Besseren belehren....

Sicher ist?

Für den Artikel ist zum Schluss eines klar:

Sicher ist, dass eine zentrale Plattform für deutschsprachige digitale Lernressourcen nötig ist. Für Schulen hätte sie den Vorteil, dass es für die Bücherbestellung eine Anlaufstelle gäbe; und Schüler müssten sich nicht mehr - wie das heute der Fall ist - für die Nutzung eines E-Lehrbuchs bei jedem Verlag einzeln online identifizieren.

Ich habe bereits weiter oben beschrieben, dass ein einziger Zugang (single sign-on) heute nicht mehr zwingend einer zentralen Plattform bedarf, wo auch die Inhalte liegen. Aber auch sonst ist für mich die Situation keineswegs so klar, wie es im Artikel den Anschein macht.

Zumindest in meinem Kopf herrscht statt Gerangel weiterhin eher Unklarheit im Schweizer E-Schulbuch-Markt und es scheint noch einiger Klärungen zu bedürfen.

Siehe auch:

Update vom 4.07.2012

Nachträge zum Artikel

Simone Luchetta, die Autorin des oben besprochenen Artikels hat auf ihrem Weblog zwei Postings zum Artikel veröffentlicht. Im ersten schreibt sie:

Im Rahmen der Geschichte über die Plattform für digitale Lehrmittel in der SonntagsZeitung vom 24. Juni 2012 habe ich viel mehr Informationen zusammengetragen, also ich schliesslich im Blatt verwenden konnte. mehr...

Diese Informationen sind sehr spannend, geht es doch um die Idee von Open Educational Ressources (OER) (Biblionetz:w02058) und creative commons (Biblionetz:w01755). Daneben beschreibt Luchetta ihren Eindruck, dass das Schweizerische Buchzentrum mauere und sich abschotte. Dies sei aber die falsche Haltung, um im Netz Erfolg zu haben.

Im zweiten Posting reagiert Simone Luchetta auf diesen Blogbeitrag von mir. Ich erlaube mir, ihn der Einfachheit halber ganz wiederzugeben:

Prof. Dr Beat Döbeli Honegger, Dozent für Medienbildung und Informatikdidaktik an der pädagogischen Hochschule Zentralschweiz hat sich in seinem Wiki zu meinem Artikel vom letzten Sonntag "Gerangel im E-Book-Markt für Schweizer Schulbücher" über die geplante Plattform für digitale Lehrmittel geäussert. Vielen Dank für die Ergänzungen. Ich möchte dazu einen kurzen Kommentar schreiben (den ich hier publiziere, da ich mich dafür auf seinem Wiki - zu Recht - hätte registrieren müssen, was ich im Moment aber nicht will):

Sehr geehrter Herr Döbeli, eine interessante Ergänzung zu meinem Artikel. In der Tat kämpfen wir JournalistInnen immer wieder damit, dass wir auf wenig Platz relativ komplexe Sachverhalte Leser-gerecht aufbereiten müssen - was nicht immer gleich gut gelingt. Wir können keine Abhandlungen schreiben - dafür gibnt es keinen Platz und kaum LeserInnen. Vielleicht können Sie es (wie gewisse meiner Gesprächspartner) positiv sehen, dass es das Thema "digitale Lehrmittel" in die Publikumspresse gebracht hat. Und ist es nicht auch erfreulich, dass Sie sogar noch etwas Neues erfahren haben (Apple zeigt sich kulant)?. Es tut mir leid, dass mir vor dem Artikel nicht bekannt war, dass Sie sich seit zwei Jahren mit genau diesem Thema auseinandersetzen (ich wusste zwar, dass sie beim hep-Verlag im VR sind). Ich werde mich aber beim nächsten Mal vorher gerne auch an Sie wenden, wenn Sie erlauben. Denn sicher ist: Die Unklarheiten scheinen noch einiger Klärungen zu bedürfen, wie sie selbst schreiben. Sicher auch in Form von Artikeln. Simone Luchetta


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Kontakt

  • Beat Döbeli Honegger
  • Plattenstrasse 80
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  • E-mail: beat@doebe.li
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