Was paradox klingt, nämlich Informatik ohne Computer zu vermitteln, hat eine lange Tradition und ist auch heute noch aktuell, vielleicht aktueller denn je.
In der
Juli 2007-Ausgabe der Communications of the ACM plädiert
Peter Denning (
Biblionetz:p03493) dafür, Informatik
("computing") als Naturwissenschaft zu betrachten.
Denning, der bereits seit Jahren die Definition der Informatik als Wissenschaft mitprägt (siehe Publikationen unter
Biblionetz:p03493), verweist im Artikel
Computing is a Natural Science (
Biblionetz:t07784) unter anderem auf den Physik-Nobelpreisträger
Ken Wilson, der
computation als drittes Standbein der Naturwissenschaft neben Theorie und Experiment bezeichnet hat. Informatik sei schon lange keine Wissenschaft der Computer mehr, sondern eine Wissenschaft der Berechnung, die sowohl in natürlichen als auch künstlichen Systemen eine wichtige Rolle spiele:
The old definition of computer science - the study of phenomena
surrounding computers - is now obsolete. Computing is the study of
natural and artificial information processes.
Auf der Suche nach einer soliden Basis für die Informatik proklamiert Denning anschliessend sieben Kategorien von fundamentalen Prinzipien der Informatik:
- Berechnung (computation): Bedeutung und Grenzen von Berechnungen
- Kommunikation (communication): Zuverlässige Datenübertragung)
- Koordination (coordination): Kooperation zwischen vernetzten Entitäten
- Erinnerung (recollection): Speicherung und Auffinden von Information
- Automatisierung (automation): Bedeutung und Limitierung von Automatisierung
- Evaluation (evaluation): Leistungsvoraussage und Kapazitätsplanung
- Design (design): Entwicklung zuverlässiger Softwaresysteme
Auf der Website
Great Principles of Computing sollen nun entsprechende Prinzipien gesammelt und dokumentiert werden. Natürlich erinnern diese fundamentalen Prinzipien an die von
Andreas Schwill (
Biblionetz:p00341) postulierten
fundamentalen Ideen der Informatik (
Biblionetz:w01098).
Aber nicht diese Verwandtschaft führt zur Informatik-Didaktik, sondern etwas anderes: Als "Beweis", dass die Wissenschaft Informatik nicht zwingend mit Computern zu tun hat, verweist Peter Denning auf die Website
Computer science Unplugged:
Computer Science Unplugged is a collection of activities designed to teach the fundamentals of computer science without requiring a computer. Because they're independent of any particular hardware or software, Unplugged activities can be used anywhere, and the ideas they contain will never go out of date. Unplugged activities have been trialled and refined over 15 years in classrooms and out-of-school programmes around the world.
Auf der Website
Computer science Unplugged und im entsprechenden Buch werden verschiedene grundlegende Konzepte der Informatik ohne den Einsatz des Computers erklärt. Laut den Initianten bietet dies verschiedene Vorteile:
Die Unterrichtseinheiten
- sind langlebig, da sie keine kurzlebigen technischen Details enthalten
- scheitern nicht an technischen Detailproblemen
- lassen sich auch in Ländern einsetzen, in denen Schulcomputer (noch) nicht so verbreitet sind
Was die Initianten mindestens im Kurzprojektbeschrieb nicht erwähnen, worauf aber Denning hinaus will: Das Projekt
Computer science Unplugged zeigt, dass die vermittelten Konzepte nicht nur in der Computerwelt anwendbar und erklärbar sind. Damit zeigen sie ihre eigene Fundamentalität.
Dieser Ansatz scheint mir auch für Länder, die sich Schulcomputer leisten können, sehr bedenkenswert.
Informatik ohne Computer weckt Widerspruch, führt zu Nachdenken und Nachfragen. Dies scheint mir ein guter Beitrag zur Diskussion um
Informatik und Allgemeinbildung. (Selbstverständlich werden mit dieser Idee Schulcomputer nicht überflüssig. Als Werkzeug und Medium sind sie weiterhin in allen Fächern im richtigen Mass wichtig für einen zeitgemässen Unterricht. Es geht nur darum zu zeigen, dass Informatikunterricht nicht gleichbedeutend mit Computerunterricht ist.)
Die Idee
Informatik ohne Computer ist weder neu noch auf den amerikanischen oder englischsprachigen Raum beschränkt. Dieses Jahr ist das empfehlenswerte Buch
Abenteuer Informatik (
Biblionetz:b03143) von
Jens Gallenbacher erschienen:
Weil man in die grauen Kisten nicht gut hineinschauen kann, um ihnen zuzusehen, werden sie hier auch gar nicht verwendet:Papier und Bleistift, Spielkarten oder andere einfache Hilfsmitteln sorgen für den klaren Durchblick! Bis auf einen Stift und eine Schere sind alle notwendigen Materialien hier im Buch vorhanden - einfach loslegen und die AHA-Erlebnisse genießen.
Das Buch ist für alle da, die schon immer mal hinter die Kulissen der Wissenschaft Informatik schauen wollten: Vom Schüler zum Lehrer, vom Studenten zum Professor, vom interessierten Laien zum IT-Experten, der zwar genau weiß, wie er bestimmte Dinge zu tun hat, aber vielleicht nicht, warum sie so funktionieren.
Quelle: Klappentext von
Abenteuer Informatik (
Biblionetz:b03143)
Auch in der Schweiz ist (mindestens) ein Lehrmittel
Informatik ohne Computer entwickelt worden, und das schon vor vielen Jahren. 1993 hat
Michael Wirth mit einem Team von Lehrpersonen im Kanton Solothurn das (heute vergriffene) Buch
Ideen für den Informatikunterricht (
Biblionetz:b03158) herausgegeben:
Nur wenige Lerninhalte sind im täglichen Leben so direkt erlebbar wie die Informatik. Und gerade darin liegt die Gefahr: Das Alltägliche, das Selbstverständliche wird nicht mehr hinterfragt.
Der Informatikunterricht kann hier einen wichtigen Beitrag leisten, indem die technischen Möglichkeiten und Anwendungen, aber auch die gesellschaftlichen Auswirkungen der "Neuen Informationstechnologien" aufgezeigt und hinterfragt werden.
Im Informatikunterricht an der Volksschuloberstufe steht daher weder das Programmieren noch die Schulung von Anwenderprogrammen im Vordergrund. Demzufolge wird sich auch diese Handreichung nicht schwergewichtig mit diesen Themen beschäftigen. Seien Sie also nicht enttäuscht, wenn Sie am Ende des Grundkurses weder eine PASCAL-Programmiererin noch ein Word 5.0-Experte sind.
Im Vordergrund steht die Allgemeinbildung!
Das Einzige, was an dieser Einleitung nicht mehr zeitgemäss ist, sind
"Word 5.0" und
"PASCAL", den Rest kann man auch heute noch unterschreiben.
Am
ICT-Träff vom 16. Mai 2007 im Kanton Solothurn wurden aktuelle Lehrmittel vorgestellt, die das vom
ICT-Komptenzzentrum TOP für den Kanton erarbeitete
stufenübergreifende ICT-Entwicklungskonzept (
Biblionetz:b03200) umzusetzen helfen.
Um die Langlebigkeit unserer Anliegen zu unterstreichen, haben wir den Mitautor des Buches von Markus Wirth und langjährigen
Schul-ICT-Pioniers Dieter Fischlin eingeladen, die damaligen Ideen des Buches
Ideen für den Informatikunterricht vorzustellen.
Unter anderem hat Dieter Fischlin einen Algorithmus zur Gesteinsbestimmung vorgestellt. Zuerst theoretisch auf Papier:
Danach an einer mechanischen Gesteinsbestimmungsmachine:
Mit der Unterrichtseinheit
Bauernschach, in dem die möglichen Züge des
"Zündholzschachtelcomputers" durch Kügelchen in Zündholzschachteln repräsentiert wurden und der durch Wegnahme von Kügelchen (scheinbar) lernfähig wurde, konnte nicht nur der entsprechende Algorithmus, sondern auch die Frage von
künstlicher Intelligenz mit den Kindern angeschaut werden:
"Ist jetzt dieser Zündholzschachtelcomputer intelligent und lernfähig?"
Zum Schluss seines spannenden Referats stellte Fischlin die wesentliche Frage, auch angesichts unseres Entwicklungskonzepts, das stellenweise sehr konkrete Anwendungsfähigkeiten detailliert beschreibt, um dem Thema etwas Fassbares zu geben:
Bildung oder Ausbildung?
P.S.: Nach zahlreichen kurzen, langfristig gesehen unwichtigen Postings ist dies eines, das eher Jakob Nielsens (und von Jochen Robes im Weiterbildungsblog bereits kritisierten) Forderung Write Articles, not blog posts entspricht ;-).
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