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Computational Thinking zum Verständnis des digitalen Leitmedienwechsels

Frank Vohle (Biblionetz:p03155) beschreibt in einem lesenswerten Blogpost, wie Gabi Reinmann (Biblionetz:p01980) und er 2005 das Konzept Weblog (Biblionetz:w01272) und mit Sebastian Fiedler (Biblionetz:p03357) darüber diskutiert hat, was das wesentliche eines Weblogs sei. Während Gabi und er auf den Post als kreative Ausdrucksmöglichkeit fokussierten, hätte Sebastian auf das Revolutionäre des RSS-Feeds (Biblionetz:w01650) gepocht.

Ich musste schmunzeln bei der Lektüre, denn ich bin auch einer dieser RSS-Nerds! Längere Zeit habe ich (meist erfolglos) versucht, andere Menschen in Vorträgen und weiterbildungen von der Bedeutung und den Vorteilen von RSS-Feeds zu überzeugen. Geholfen hat es wenig, RSS ist wieder weitgehend von der Bildfläche verschwunden und Menschen abonnieren weiterhin Newsletter und scrollen endlos durch Timelines von sozialen Medien und News-Portalen.


Meine Vortragsfolien von 2009 zum Thema RSS

Als nächstes beschreibt Frank Vohle in seinem Beitrag, dass er ebenfalls zur Jahrtausendwende das Biblionetz entdeckt, aber nicht wirklich verstanden hätte:

In diesen Nuller-Jahren entdeckte ich auch erstmals Beats Bibliothek. Hinter „Beat“ steht der Schweizer Informatiker und Bildungsdidaktiker Beat Döbeli Honegger und hinter seiner „Bibliothek“ steckt, ja was denn, eine Art „Luhmannscher Zettelkasten“, wie er selbst schreibt. Zu finden sind dort u.a. Texte, Begriffe, Personen, Fragen, Aussagen und Hitlisten rund um das Thema Medienbildung. Alle Elemente – über eine Million – sind verknüpft und bilden einen persönlichen Thesaurus, weswegen der Name Beats Bibliothek treffend ist. Was mich fasziniert: Ich sah damals beim ersten Lesen noch nicht annähernd, was sich da herausbilden sollte; ich hatte dafür keine Kategorie im Kopf, die mir helfen konnte, zu verstehen. Jetzt aus der Rückschau, nach 25 Jahren, mit alle den Erfahrungen und Vergleichen (Zettelkasten, Hypersystem, Internet) ist es klar(er), zumindest sehe ich den Sinn, die Umrisse und den Hintergrund einer „Memex“, einer persönlichen „Ontologie“.

Besten Dank, lieber Frank für diese Erwähnung und Einschätzung! In gewisser Hinsicht geht es mir ähnlich, denn ich wusste vor 25 Jahren auch nicht, auf was ich mich da eingelassen habe! Hätte ich das gewusst, hätte ich evtl. nie damit begonnen - einerseits angesichts der vielen Zeit, die ich mit der Entwicklung und Befüllung des Biblionetzes verbracht habe in den letzten 25 Jahren (wohlwissend, dass eine Zeit kommen wird, wo Computer diese Arbeit werden übernehmen können) und andererseits aus Erfurcht, dass es mir vermutlich zu Beginn nicht gelingen würde, eine Datenstruktur zu entwerfen, die ein Vierteljahrhundert Bestand haben und meinen wandelnden Bedürfnissen stand halten könnte. (Das Biblionetz hat übrigens über eine Million Verknüpfungen zwischen den Objekten, aber massiv weniger als eine Million Objekte…). Ab einer gewissen Zeit war (und ist) für mich das Biblionetz auch ein informelles Forschungsprojekt, selbst auszuprobieren, wie denn Werkzeuge des persönlichen Wissensmanagments in einer digitalisierten Welt aussehen könnten.


Vortragsfolien aus dem Jahr 2020 zu Entstehung und Aufbau des Biblionetzes

Die Erfahrung der letzten 25 Jahre hat mir auch gezeigt, dass die Grundstruktur des Biblionetzes genügend robust war, um meinen Bedürfnissen auch heute noch zu genügen (oder liegt das daran, dass ich mich die letzten 25 Jahre nicht weiterentwickelt habe?) Das Biblionetz war für mich deshalb auch ein wichtiges Objekt, das mir den Wert meines Informatikstudiums an der ETH Zürich bewusst gemacht hat: Ich hatte im Studium gelernt, einen gewissen Ausschnitt der Welt zu abstrahieren / modellieren und mit Hilfe von gewissen Automatismen einigermassen effizient im digitalen Raum abzubilden oder aufzubauen. Gerade das Biblionetz zeigt: Es waren nicht die konkreten Softwareprodukte relevant (das Biblionetz läuft unter der Haube seit 25 Jahren mit Microsoft Access…), sondern die Fähigkeit, wesentliche Struktureigenschaften des zu Modellierenden zu erkennen und Grundtechnologien zu kennen, um diese digital umsetzen zu können.

Zusammen mit dem von Frank Vohle beschriebenen RSS-Nerdtum würde ich diese Eigenschaft als computational thinking (Biblionetz:w02206) beschreiben, dem von Seymour Papert (Biblionetz:p00192) erfundenen und von Jeanette Wing (Biblionetz:p09720) bekannt gemachten Begriff, der sich mit "denken wie Informatiker:innen" umschreiben lässt. Kein Wunder - ich bin ja schliesslich Informatiker, also werde ich doch hoffentlich so denken, wie Informatiker:innen wink

(Bei dieser Gelegenheit ist mir wichtig zu betonen, dass sich in meiner Wahrnehmung computational thinking nicht komplett von der Informatik lösen und auf abstraktes Problemlösen etc. reduzieren lässt, sondern dass die aktuellen Potenziale und Begrenzungen von derzeit verfügbarer Informationstechnologie Teil von computational thinking sein müssen).

Was mich beruflich seit 25 Jahren umtreibt: Wie lässt sich das notwendige computational thinking beschreiben und vermitteln, das zum Verständnis des digitalen Leitmedienwechsels notwendig ist - ohne dass gleich die gesamte Menschheit ein Informatikstudium absolvieren muss?

Seit Jahrzehnten reden wir mit unterschiedlichen Begriffen von Digitalisierung. In der Praxis ist es aber sehr oft eine Schreibmaschinendigitalisierung (Biblionetz:w03334), d.h. die echten Potenziale des Digitalen bleiben ungenutzt und der digitale Prozess ist mitunter noch umständlicher und aufwändiger als der analoge Vorgänger (was Kritiker:innen natürlich in ihrer Kritik am Digitalen bestätigt).

Hier gefällt mir Franks Verweis auf das Buch Flatland (Biblionetz:b0334) von Edwin Abott sehr gut: Wie oft raufen sich Informatiker:innen die Haare, weil in Projekten die Potenziale der Digitalisierung schlicht nicht gesehen werden und dieses Nichtsehen so grundlegend ist, dass auch niemand auf die Idee kommt, frühzeitig Informatiker:innen beizuziehen und nach ihrer Sichtweise auf die Herausforderung zu fragen. Als Informatiker:in kommt man sich teilweise tatsächlich vor wie jemand aus Abotts Buch, der/die zu erklären versucht, dass der wahrgenommene Kreis eigentlich eine Kugel oder ein Zylinder sei.

Ich bin überzeugt davon, dass zum Verständnis der heutigen digitalisierten Welt ein Grundverständnis von Informatik notwendig ist, genau so, wie wir ein Grundverständnis an Physik, Chemie, Biologie, Psychologie, Wirtschaft etc. benötigen, um die Welt verstehen und gestalten zu können. Dies ist der Grund, warum ich mich für Informatik in der Schule einsetze, das Dagstuhl-Dreieck (Biblionetz:w02886) propagiere oder mit dem DPACK-Modell eine Erweiterung des TPACK-Modells vorschlage, das Technologie eben nicht nur als Anwendungskompetenz betrachtet, sondern unter Digitalitätskompetenz (Biblionetz:w03297) alle drei Dagstuhl-Perspektiven vereint. Denn diese drei Dagstuhl-Perspektiven scheinen mir notwendig zu sein, um künftige Entwicklungen des digitalen Leitmedienwechsels, wie sie sich derzeit exemplarisch grad am von Frank ebenfalls erwähnten ChatGPT (Biblionetz:w03387) zeigen, mindestens im Ansatz einschätzen zu können.

Der Flatland-Effekt greift jedoch auch hier: Selbst im Jahr 2023 wird diese Überlegung im Bildungsbereich nicht überall geteilt oder genügend gewichtet (was trotz der anderen grossen aktuellen Herausforderungen langfristig gesehen nicht ganz einzusehen ist). Doch ich habe ja noch Zeit und werde mich auch die kommenden (15, 20, 25?) Jahre als Erklärbär der digitalen Transformation in der Bildung versuchen…


Vortrag aus dem Jahr 2021, der unter anderem das DPACK-Modell vorstellt.

Kommentare von Frank Vohle:

Danke dir Beat! Mit Ludwig Fleck wissen wir, dass Denkstile Tatsachen erzeugen. Es gibt aber Denkstile im Plural. Wenn InformatikerInnen z.B. auf PädagogenInnen treffen, dann ist Missverstehen oder Illusion des Verstehens programmiert bzw. nicht unwahrscheinlich :-). Was tun? Denkstiltraining wäre ein Anfang, damit ich überhaupt kapiere, wie der jeweils Andere die Welt modelliert, sagt, was für ihn/sie WESENTLICH ist, vgl. RSS-Feed. Frank

-- FrankVohle - 02 Feb 2023

Antwort von mir

Lieber Frank,

unter anderem deshalb freue ich mich, dass ich seit nunmehr 15 Jahren als Informatiker umzingelt von Pädagog:innen und Psycholog:innen an einer kleinen Pädagogischen Hochschule im täglichen Training das gegenseitige Verstehen üben kann!

Antwort von Frak Vohle

Du bist ja auch ein Bildungsinformatiker, Kind zweier Welten, der zwischen den Stühlen schafft. Und von "solchen" brauchen wir mehr.

-- FrankVohle - 02 Feb 2023
 
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