Wenn Spitzer Studien zitiert

Sorry, dass ich bereits wieder mit einem Spitzer-Posting komme (siehe SpitzersDigitaleDemenz) aber nachdem Manfred Spitzer (Biblionetz:p01290) es gestern abend (29.08.12) in der Sendung log-in des ZDF wieder mal auf die Spitze getrieben hat, musste ich das Buch wieder hervorkramen und nicht langen suchen, bis ich gute Beispiele für Spitzers Umgang mit der Wissenschaft fand.

Wer die Sendung verpasst hat, hier ein Zusammenschnitt in 180 Sekunden:

Spitzers Aussage ist u.a: Computer und Internet machen süchtig (Biblionetz:a00057). Im aktuellen Buch Digitale Demenz (Biblionetz:b04942) im Kapitel Schlaflosigkeit, Depression, Sucht & körperliche Folgen (Biblionetz:t14168) klingt das dann so:

Über das Suchtpotenzial von Internet und Computern liegen mittlerweile eine Reihe von Studien vor, die von der einfachen Statistik des Auftretens (Epidemiologie) bis zum Wirkungsmechanismus (Gehirnforschung) reichen. Wir wissen also nicht nur, dass digitale Medien süchtig machen, wir wissen auch, warum dies so ist. (S. 266)

Liest man nun die von Spitzer im übernächsten Absatz (S. 266) zitierte Studie Prävalenz der Internetabhängigkeit (PINTA) PDF-Dokument von Rumpf et al. (2011) (Biblionetz:t14243), dann heisst es dort:

Die Internetabhängigkeit ist eine noch wenig erforschte Form der stoffungebundenen Süchte. Ihr wird derzeit viel Aufmerksamkeit geschenkt, u. a. weil es sich um eine Problematik mit wachsender Bedeutung handeln könnte. Bislang ist ungeklärt, ob (1) Suchtprobleme bei Internetgebrauch eine bedeutsame Störung mit klinischer Relevanz darstellen und (2) ob deren Prävalenz in der Bevölkerung Größenordnungen aufweist, die bundespolitisches Handeln erfordern. Bisher gibt es jedoch aufgrund des Mangels an hinreichend validen Daten keine aussagekräftigen Untersuchungen des Problems.

und

International finden sich Prävalenzraten zwischen 1 und 14% (Christakis, 2010). Die Daten zur Häufigkeit von Internetabhängigkeit international und für den deutschen Raum sind in einem vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) geförderten Projekt gesichtet und zusammengefasst worden (Petersen et al., 2010). Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass eine Vielzahl von methodischen Problemen vorliegt, so dass nur vorläufige Schätzungen möglich sind. Die Hauptprobleme bestehen darin, dass es sich in vielen Fällen um Gelegenheitsstichproben handelt, die keinen Anspruch auf Repräsentativität erheben können, und dass Erhebungsverfahren eingesetzt wurden, die nicht validiert sind. Es kommt hinzu, dass derzeit keine einheitliche Definition von Internetabhängigkeit vorliegt (Byun et al., 2009).

Das klingt aber gar nicht nach "Tatsache und Ursachen sind restlos geklärt.", im Gegenteil.

Das beschriebene Beispiel ist übrigens beileibe kein Einzelfall:
  • So zitiert er z.B. die Studie Media use, face-to-face communication, media multitasking, and social well-being among 8- to 12-year-old girls von R. Pea et al. (Biblionetz:t14194) und berichtet dabei von Kausalitäten: "Die Studie zeigte zunächst, dass der häufige Konsum von Videos einen ungünstigen Einfluss auf erfolgreiche soziale Beziehungen hat." obwohl die Autoren der Studie selbst deutlich betonen, dass ihre Studie keine kausalen Aussagen zulasse (S.9).
  • Oder er zitiert auf Seite 223 aus einer Studie einen 17-Jährigen. Die als Quelle angegebene Studie von "Rideout et al. 2006" handelt aber von sechsmonatigen bis sechsjährigen Kindern.

Auch hier gilt wieder, dass meine Kritik nicht die Problematik der Internetsucht negieren soll. Ich weise nur darauf hin, dass Spitzer, der in der gestrigen Diskussionssendung mehrfach seine zitierten wissenschaftlichen Studien als Quelle der alleinigen Wahrheit dargestellt hat, mitunter sehr selektiv und eigenwillig aus Studien zitiert und Schlüsse daraus zieht.

Spitzers Vorgehensweise ist in keinster Art und Weise hilfreich zur Lösung der tatsächlich vorhandenen Herausforderungen im Zusammenhang mit Computer und Internet in Schule und Gesellschaft.

Als Wissenschafter stört mich zudem, dass er sich dauernd auf seine Wissenschaftlichkeit beruft, aber gleichzeitig sehr schludrig und unwissenschaftlich vorgeht. Das schadet auch dem Ansehen der Wissenschaft.

Siehe auch:

Kritik hin oder her, Herr Spitzer rüttelt den Normalbürger!

Wo sind die Belege, dass der Einsatz digitaler Medien tatsächlich zu einer Verbesserung der Leistungen führt.

Wer sagt, was Medienkompetenz ist, wie sie vermittelt werden kann und wie die Kompetenz im Lernprozess wirkt? Welcher Lehrer verfügt über Medienkompetenz und ist in der Lage diese Kompetenzen zu vermitteln?

Goldige Zustände in Goldau?! Im Tagesgeschäft scheitern viele an der eigenen Inkompetenz. Das beginnt schon bei der Bedienung eines OH-Projektors und endet bei der Bedienung eines PC. Meine Kollegen sind um die 50 und haben eine Stundenbelastung von 26 Unterrichtsstunden. Was erwartet man dann?

Gruß aus Berlin

-- MatthiasMache - 17 Sep 2012

Die Frage Was bringt der Computereinsatz in der Schule? (Biblionetz:f00088) wird seit 40 Jahren intensiv gestellt und beforscht. Im Schulalltag hängt die Antwort von sehr verschiedenen Faktoren ab (Alter, Fach, Medienkompetenz der Lehrperson, Medienkompetenz der Sschülerinnen und Schüler etc.) so dass eine pauschale Antwort schwierig ist. Für eine Pauschalantwort kann man am ehesten die aktuelle Meta-Meta-Analyse von John Hattie heranziehen, die er in seinem Buch Visible Learning (Biblionetz:b04477) präsentiert. Er kommt zum Schluss, dass Computer assisted instruction eine positive Effektstärke von .37 hat, was aus meiner Sicht nicht besonders berauschend, aber auch nicht vernachlässigbar ist. Es fragt sich aber, wie relevant eine solche Pauschalsicht ist, denn wer würde schon fragen, was der Effekt einer Wandtafel im Schulzimmer ist. Bei der Wandtafel ist allen klar, dass die Wandtafel alleine noch keine besseren Lernergebnisse sicherstellt. Genauso ist es mit Computern im Schulzimmer.

Ich bin absolut einverstanden, dass die Vermittlung von Medienkompetenz eine grosse Herausforderung für die Schule ist, weil sie a) sich weiterentwickelt und b) nicht nur die Lernenden, sondern auch die Lehrpersonen diesbezüglich lernen müssen. Keineswegs goldige Zustände in Goldau, auch wir an der pädagogischen Hochschule und in den Schulen müssen Wege finden, wie wir trotz Ressourcenmangel die neuen Themen sinnvoll vermitteln können.

Meines Erachtens sind bezüglich Medienkompetenz (Biblionetz:w00542) nicht fehlende Begriffsdefinitionen, wissenschaftliche Arbeiten, Lehrpläne oder Unterrichtsbeispiele das grosse Problem. Es ist ein Mangel an Ressourcen (Zeit, Geld) in diesem Bereich, weil Medienkompetenz bildungspolitisch bisher zu wenig gewichtet wird.

Eines aber scheint mir klar: Digitale Medien pauschal verdammen oder ignorieren hilft nicht weiter.

-- BeatDoebeli - 18 Sep 2012


 
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