Digitale Demenz: Wenn Manfred Spitzer falsch rechnet und unsauber zitiert
Seit ein paar Tagen beschäftige ich mich intensiv mit Manfred Spitzers (
Biblionetz:p01290) neuestem Buch
Digitale Demenz (
Biblionetz:b04942). In gewohnter Art und Weise malt Spitzer ein düsteres Bild zur Zukunft mit digitalen Medien. So schreibt er im ersten, auch
online verfügbaren Kapitel
Macht Google uns dumm? (
Biblionetz:t14153) auf Seite 18:
Demenz ist mehr als nur Vergesslichkeit. Und so geht es mir
bei der digitalen Demenz auch um mehr als nur darum, dass besonders
junge Menschen immer vergesslicher zu werden scheinen,
worauf erstmals koreanische Wissenschaftler im Jahre 2007
hingewiesen haben. Es geht vielmehr um geistige Leistungsfähigkeit,
Denken, Kritikfähigkeit, um die Übersicht im »Dickicht
der Informationsflut«. Wenn die Kassiererin »2 plus 2«
mit der Maschine berechnet und nicht merkt, dass das Ergebnis
»400« falsch sein muss, wenn die NASA einen Satelliten in den
Sand (bzw. ins endlose All) setzt, weil niemandem aufgefallen ist,
dass Inches und Meilen nicht dasselbe sind wie Zentimeter und
Kilometer, oder wenn Banker sich mal eben um 55 Milliarden
Euro verrechnen, dann heißt dies letztlich alles nur, dass keiner
mehr mitdenkt. Offenbar hat in diesen Fällen niemand grob im
Kopf überschlagen, was größenordnungsmäßig herauskommen
müsste, sondern sich stattdessen auf irgendeinen digitalen Assistenten
verlassen. Wer hingegen mit Rechenschieber oder Abakus
rechnet, der muss die Größenordnung im Geist mitbedenken
und kann kein völlig unwahrscheinliches Ergebnis liefern.
Dem kann man eigentlich zustimmen. Es ist eine andere Formulierung von
Peter Bieris Aussage
Gebildet sein, heisst Proportionen zu kennen (
Biblionetz:a00978). Die Frage ist nur, welche Rolle digitale Medien dabei spielen.
Dumm ist dann aber, dass Manfred Spitzer bereits auf der zweiten Seite der Einführung seines Buches ein Rechenfehler unterläuft. Er zitiert aus dem Forschungsbericht
Computerspielabhängigkeit im Kindes- und Jugendalter (
Biblionetz:t14189) von Rehbein et al. (2009) die Mediennutzung von Neuntklässlern in Deutschland im Jahr 2009:
Schaut man sich nun diese Zahlen etwas genauer an (entweder indem man sie
"grob im Kopf überschlägt" oder indem man
"irgendeinen digitalen Assistenten" benutzt), so fällt einem bald auf, dass da etwas nicht stimmen kann. Ja, das Total der Mediennutzungszeit in der Spalte Mädchen entspricht nicht der Summe der drei aufgeführten Einzelwerten. 3:21 und 1:53 und 0:56 ergeben zusammen 6:10 und nicht 6:50. Schaut man nun in der
Originalliteratur nach (Seite 14),
so wird rasch klar, wie dieser vermutlich Fehler zustande kam: Die 370 Minuten wurden falsch in Minuten umgerechnet, vermutlich im Kopf: Erst wurden aus den 360 Minuten 6 Stunden. Da waren dann noch 10 Minuten übrig, die dann als fehlende Minuten zur siebten Stunde interpretiert wurden. Wenn aber die Summe der täglichen Mediennutzungszeit bei Mädchen nicht 6:50 sondern 6:10 beträgt, dann stimmt auch die durchschnittliche tägliche Mediennutzungszeit von Mädchen und Jungen nicht.
Dass dieser Rechenfehler bis ins gedruckte Buch unentdeckt blieb, lässt sich nur damit erklären, dass da niemand nachgerechnet hat…
Weniger klar hingegen ist mir, wie folgender Satz auf der ersten Seite der Einführung zu erklären ist:
In Deutschland liegt die Mediennutzungszeit von Neuntklässlern
bei knapp 7,5 Stunden täglich, wie eine große Befragung
von 43 500 Schülern ergab.
Meiner Ansicht nach stimmt dieser Satz nicht einmal, wenn man Spitzers Rechenfehler unberücksichtigt lässt. Ein Blick auf die Tabelle zeigt, dass die tägliche Mediennutzungszeit
von Jungen 7:37 beträgt, die von Spitzer berechnete,
geschlechtsunabhängige jedoch 7:14 (was 7 1/4 Stunden entsprechen würde) und die mathematisch korrekt berechnete 6:53, also weniger als sieben Stunden.
Ich mag nicht wirklich glauben, dass Spitzer mit obigem Zitat nur die männlichen Jugendlichen gemeint hat. Denn wenn er sonst von geschlechtsspezifischen Merkmalen schreibt, erwähnt er das Geschlecht auch. Ein Schelm also, wer Böses denkt…
Fazit: Sowohl dieser Rechenfehler als auch die ungenaue Schilderung der erhobenen Zahlen machen Spitzers Aussage, heutige Jugendliche würden intensiv Medien nutzen, nicht falsch. Aber es nagt einerseits an der Glaubwürdigkeit eines Autors, der fortwährend seine Wissenschaftlichkeit betont und anderen vorwirft, ungenau und oberflächlich zu arbeiten und recherchieren. Das obige Zitat von der ersten Seite der Einführung zeigt ausserdem, dass Manfred Spitzer zu polemischen Interpretationen von Daten neigt.
Dies sollte man bei der Lektüre und insbesondere bei der Zitation des Buches im Hinterkopf haben.
Anmerkung: Dies sind beileibe nicht die einzigen kritisierbaren Stellen in diesem Buch. So ist es beispielsweise ebenfalls unschön, dass sämtliche Literaturquellen aus dem 7. Kapitel im Literaturverzeichnis fehlen (auch da hat im entscheidenden Moment niemand mehr nachgeschaut) oder auf Seite 269 13'000 Knaben und 1300 Mädchen zusammen 14'400 Kinder ergeben. Das Nachweisen solcher Fehler und Ungenauigkeiten ist einfach sehr zeitaufwändig und ich bin mir nicht sicher, ob ich diese Zeit nicht besser in produktive Arbeiten investieren sollte.
Kommentare
Lieber Beat
Dass Spitzers Aussagen polarisieren und ich über weite Strecken völlig uneins mit seinen Argumenten und Begründungen bin ist so. Hingegen sollten wir als Medienpädagogen auch fähig sein, die Wahrheiten aufzunehmen und streng zu reflektieren. Das bringt uns weiter als der Vergleich irgendwelcher Rechnungsfehler. Nur so können wir voneinander lernen. Denn, so weh es manchmal auch tut, der Mann hat in vielen Teilen mindestens teilweise recht.
Danny Frischknecht, PHTG
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DannyFrischknecht - 09 Aug 2012
Lieber Danny,
Ich behaupte nirgends, dass Spitzer mit allen Argumenten daneben liegt. Es gibt viele Punkte, wo ich ebenfalls mit ihm einig bin, insbesondere in den Voraussetzungen (weniger dann in den von ihm gezogenen Konsequenzen). Wenn Manfred Spitzer aber dauernd auf seine Wissenschaftlichkeit pocht und betont, wie seriös und wahr alle seine Aussagen seien, dann darf ich auch darauf hinweisen, dass selbst ihm oberflächliche Flüchtigkeitsfehler passieren und er unsauber zitiert, insbesondere da dies ein Thema seines Buches ist. Zudem sind die beiden von mir gezeigten Unsauberkeiten keienswegs die einzigen im Buch, so dass es mir eher Methode als Zufall scheint. Ich werde aber tatsächlich nicht den Aufwand betreiben, jetzt alle Unsauberkeiten aufzulisten.
Und ja: Ich setze mich durchaus auch inhaltlich mit seinen Argumenten und zitierten Studien auseinander (siehe unter anderem im
Biblionetz:b04942). Nur tu ich das nicht als
"Wahrheiten aufnehmen", sondern als
"Hypothesen prüfen und hinterfragen".
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BeatDoebeli - 09 Aug 2012
Man kann diesen Herrn Spitzer, der sicherlich ein grandioser Redner und Selbstvermarkter ist, wissenschaftlich nicht mehr ernst nehmen. Hier mein Beitrag dazu:
Am 8.12.2011 sagt er im WDR 5 (Leonardo) anlässlich eines Features zum Thema 15 Jahre Schulen ans Netz:
Es kann sein, dass man mit cleveren Programmen oder was auch immer es
schafft, dass dennoch was gelernt wird und dass vielleicht sogar das Lernen
mit den Medien besser funktioniert als ohne, dazu gibt es aber bislang
keinerlei Untersuchungen. Es gibt Studien, die zeigen, die Kinder lachen
mehr, wenn sie vorm Bildschirm sitzen oder dass sie auch mal für zwei
Wochen interessierter sind. Die Studien zeigen aber auch, dass sie nach vier
Wochen nicht mehr so interessiert sind. Ich habe mir Unterricht angeguckt
und zwar ganz guten Unterricht und ich muss sagen, die Schüler waren
abgelenkt durch die modernen Medien. Ich kann nur sagen, die Schüler taten
mir leid.
Auf den Internetseiten der Firma bettermarks, die ein Mathe-online-System auf den Markt gebracht haben, sagt er unter der Rubrik Weitere Expertenstimmen (
http://de.bettermarks.com/meinungen/wissenschaftler.html):
Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen:
Mit bettermarks zeigt sich über alle Schulformen ein signifikant positiver Effekt.
und an anderer Stelle:
bettermarks ermöglicht angstfreies Lernen. Auf die eigene Weise und ohne Publikum.
Oder schließlich:
Ich kann sagen, dass ich selten ein derart aufwändiges Projekt begleitet habe. Hier sind Leute am Werk, die das Ausmaß an Problemen im Fach Mathematik erkannt haben. Die gehen sie mit bettermarks an und schöpfen gleichzeitig erstmals die Möglichkeiten des Internets für das Lehren- und Lernen in Mathe aus.
Ein Schelm,wer Böses dabei denkt.
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UliDoenhoff - 10 Aug 2012
finde ich sehr sehr unterkomplex, was da steht. wird - bei aller skepsis, die man spitzer generell entgegen bringen kann - nicht im geringsten dem gegenstand und den thesen gerecht. meine 50cents dazu auf
http://pisaversteher.com
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ChristianFueller - 13 Aug 2012
Da bei
pisaversteher.com die Kommentare relativ gut versteckt sind, hier ebenfalls, was ich auf obige Kritik geantwortet habe:
Oder einfacher: Spitzer kann nicht rechnen, seine Thesen sind mithin gaga. So habe ich das NIE gesagt. Im Gegenteil schreibe ich wörtlich Sowohl dieser Rechenfehler als auch die ungenaue Schilderung der erhobenen Zahlen machen Spitzers Aussage, heutige Jugendliche würden intensiv Medien nutzen, nicht falsch. Ich habe mich in meinem Blogposting NUR auf seine Arbeitsmethodik bezogen. Zu den Inhalten des Buches habe ich nichts gesagt, was aber nicht heisst, dass ich insgesamt dazu nichts sagen will.
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BeatDoebeli - 14 Aug 2012
weil ich es jetzt auch lese, widerstrebend: ich verstehe nicht, warum alle immer eilfertig versichern, sie würden viele aussagen teilen. das einzige, was ich akzeptabel finde, ist seine explizit und apriori formuliertes konzept von "lernen", das aber dann, wenn er in seine gedächtnis-laborexperiment-studien geht, kaum eine rolle spielt. der zusammenhang ist bloß behauptet.
erste bemerkungen hier:
https://plus.google.com/102484891814321353019/posts/a6myL8MBewj
aber ich werde jedenfalls eine abschließende würdigung verfassen, wenn ich das schon kaufen und lesen musste.
--
MartinLindner - 18 Aug 2012
Angesichts der ständigen Falsch- und Ungenau-Zitate sowie der verwaschen oder völlig fehl genutzten Quellen wäre ein Wiki analog von Guttenplag schön, aber funktioniert ja leider wegen des
UrhG nicht.
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OliverDing - 03 Sep 2012
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