Alles wird nur aus 0 und 1 errechnet

Im soeben erschienenen Buch Computersüchtig von Wolfgang Bergmann und Gerald Hüther (Biblionetz:b02881) wird wieder einmal die binäre Digitalisierung als Schreckgespenst an die Wand gemalt:

Die Bilder, Szenarien, Töne usw. im Internet sind nichts anders als errechnete Lichtpunkte. Wir befinden uns also, wenn wir uns im Internet bewegen, in einem absolut abstrakten symbolischen Raum. Kein Gran materieller Gegenständlichkeit ist hier mehr vorzufinden.

Aber das ist noch nicht genug. Man könnte sich ja vorstellen, dass beispielsweise die Schrift im Internet aus der schrittsymbolischen in eine algebraische Ordnung übertragen worden ist. Dies wäre zwar eine hochabstrakte, aber letztlich nachvollziehbare Operation, die den Charakter der allgemeinen symbolischen Ordnungen von Schrift und Zahl immer noch aufrechterhält. Dies ist hier aber nicht der Fall.

Ob Sprache oder Bild, Schrift oder grafisches Zeichen - all dies ist reduziert auf die binäre Reihe, also auf die beiden elementaren Zeichen Null und Eins, oder »ja« und »nein«, oder »fort« und »da«. Rein technisch gesehen bleibt nichts von der syntaktischen Ordnung der Schrift, nichts von der lautlichen oder semantischen Bedeutungsgestalt der Sprache, nichts von der Konstruktion der Bilder, sogar die alphanumerische Reihe, Basis aller algebraischen Operationen, ist äußerst reduziert. (Seite 41)

Ich finde dieses reduktionistische Lamentieren äusserst mühsam. Die Argumentation hinkt meiner Meinung nach gewaltig (Ich will mich nicht darüber aufhalten, ob auch eine binäre Algebra eine Algebra sein kann…). Mit diesem Herausstreichen der Grundbausteine der binären Digitalisierung wird unterstellt, dass durch die Eigenschaften der Teile die Eigenschaften des Ganzen vollständig beschrieben werden könnten und dies somit eine adäquate Beschreibungsstrategie sei. Es würde aber niemandem in den Sinn kommen, fehlende zwischenmenschliche Beziehungen mit der Definition des menschlichen Körpers mit den vier DNA-Bausteinen Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin) zu erklären. Hier ist offensichtlich, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile (Biblionetz:a00007).

So sind es im nächsten Beispiel ja nicht die physisch berührbaren Buchseiten, die dafür sorgen, dass uns ein Buch berührt:

Wenn wir entlang den Schriftzeichen mit einem spannenden Buch ein Abenteuer durchlebt haben und schließlich das Buch zuschlagen, so ist doch das Buch in uns, und unsere Erinnerungen an das ganze Leseabenteuer, an die Spannung und Fantasie oder den Gedankenfluss, der uns beim Lesen durchfloss, bleibt mit diesem Objekt verbunden. Wir sammeln Bücher aus diesem Grund. Sie sind, nachdem wir sie gelesen haben, ein Stück Erinnerung. (Seite 42)

Hmm, und Filme, die ich im Kino gesehen habe oder - oh Schreck - binär codiert auf einer DVD, sind kein Teil meiner Erinnerung?

Aber es kommt noch dicker:

Wo ein Buch mein symbolisches Erleben aufbewahrt und »festgeschrieben« hat, verlässlich verankert in der stabilen Materie Papier und Druck, da ist die gespeicherte Datenmenge ein höchst unzuverlässiger Garant meiner Abenteuer und der damit verknüpften Emotionen. Inhaltlich und technisch: Alles könnte auch ganz anders sein!

Ui, und was ist mit meiner eigenen Lebensgeschichte? Nirgends festgehalten in stabiler Materie, sondern nur in meinem Gehirn, ein höchst unzuverlässiger Garant meiner Abenteuer.

P.S.: Es heisst tatsächlich "kein Gran" im Buch. Gemäss Wikipedia ist ein Gran ein altes Gewichtsmass und entspricht 0.05 Gramm.
 
Zum Kommentieren ist eine Registration notwendig.

Kategorien: IsaBlog, IsaMedienBildung

Kontakt

  • Beat Döbeli Honegger
  • Plattenstrasse 80
  • CH-8032 Zürich
  • E-mail: beat@doebe.li