Der grosse Wandel besteht aus vielen kleinen Wandeln

Philipp Wampfler hat meine gestrige Grafik aufgenommen und begründet, warum er dafür plädiert, die digitale Entwicklung für abgeschlossen zu betrachten und deshalb von Digitalität und nicht mehr von Digitalisierung zu sprechen.

Ich verstehe seine Haltung für seinen aktuellen Kontext ("grösseres Konzept") absolut. Zu Recht wurde meine Grafik kritisiert als abstraktes Philosophieren, das die konkrete Arbeit im Schulalltag nicht wesentlich weiterbringe. In konkreten Projekten geht es darum, den aktuellen Zustand anzugehen und nicht eine schwammige, scheinbare ferne Zukunft zu diskutieren. Gewisse Aspekte des digitalen Wandels sind schlicht und einfach da - und das zum Teil seit Jahren. In diese Richtung geht auch meine Folie vom digitalen Besenwagen, die ich diese Woche erstmals gezeigt habe:


Quelle: Vortrag Digitalisieren Sie noch?

Es gilt zu akzeptieren, dass wir über gewisse Gegebenheiten nicht mehr diskutieren sollten: Eine Lehrperson, der basalste Kenntnisse des Umgangs mit digitalen Werkzeugen fehlt ("Wie erstellt man einen Ordner?", "Wie mache ich ein Fenster grösser?") ist nicht mehr in der Lage, Schülerinnen und Schüler auf die Welt von heute und morgen vorzubereiten! (Dabei geht es nicht nur um das fehlende Handling von Alltagswerkzeugen, sondern auch um das damit einhergehende Vermögen sich vorzustellen, was mit diesen Werkzeugen alles möglich ist und täglich gemacht wird).

Nicht einverstanden bin ich jedoch mit Wampflers Aussage, dass aus Sicht der Bildung der Leitmedienwechsel bereits abgeschlossen sei:

Der Leitmedienwechsel und die Digitalisierung sind in Bezug auf die Aspekte, die für Bildung wichtig sind, bereits erfolgt. Informationen stehen immer zuerst im Netz und werden dann auch noch in andere Medienformen übertragen. Daten werden digital erfasst. Ihre Verarbeitung erfolgt weitgehend automatisiert.
Quelle: schulesocialmedia.com

Aus meiner Sicht übersieht Philipp Wampfler mindestens die kommenden und am Horizont bereits aufscheinenden Veränderungen, die durch maschinelles Lernen (Biblionetz:w02863) denkbar sind - sowohl für die Gesamtgesellschaft als auch für den Bildungsbereich.

Mindestens im aktuellen Blogpost beschreibt Wampfler digitale Medien als blosse Wiedergabe- und Kommunikationsmedien:

Noch gibt es eine Post, die Briefe entgegennimmt und zustellt, obwohl eigentlich niemand mehr Briefe braucht. Das Medium Brief und das Medium digitale Nachricht existieren gleichzeitig. Das wird sich auch nicht ändern – Menschen werden nicht vergessen, dass man Briefe schreiben kann, sie werden es einfach weniger häufig tun, weil sie kaum noch das Bedürfnis dazu verspüren. Die Möglichkeiten, Botschaften im Netz verschicken zu können, wird dazu führen, dass Briefe und ihre Zustellung nicht mehr die Kernaufgabe der Post sein können, sondern von Zustelldiensten nebenher und möglicherweise als Luxusdienstleistung überbracht werden. Das ist eine Auswirkung einer Entwicklung. Eine weitere Auswirkung wird auch darin bestehen, amtlich verlässliche Formen des digitalen Schriftverkehrs zu etablieren. Dabei wird aber nicht eine neue mediale Ebene erschlossen oder eine echte Innovation benötigt: Alle Bausteine sind schon da, sie müssen nur noch eingesetzt und politisch durchgesetzt werden.

In dieser Beschreibung scheinen zwei grundlegende Funktionen von Digitaltechnik auf: Das Erfassen und Speichern sowie das Übermitteln und Verbreiten von Daten. Aus meiner Sicht übersieht Wampfler aber die dritte Grundfunktion von Computern: Das Verarbeiten von Daten:

Der Computer ist das erste Medium der Menschheitsgeschichte, das Daten nicht in etwa so wieder ausgibt, wie sie eingegeben bzw. geschrieben worden sind, sondern das Potenzial besitzt, die Daten zu verarbeiten und etwas ganz anderes auszugeben als eingegeben wurde. In meiner Wahrnehmung ist machine learning der aktuell verwendete (Hype-)Begriff, der dieses Phänomen zu beschreiben versucht.

Um bei Wampflers Beispiel zu bleiben: Wir werden die nächste Stufe im digitalen Wandel erreicht haben, wenn Computer Briefe selbst beantworten und wir zunehmend Mühe bekunden werden, computergeschriebene Texte von Menschen geschriebenen Texten zu unterscheiden. Derzeit sind die aktuellen Versuche meist noch leicht zu durchschauen und eher lächerlich. Auch wenn gewisse aktuelle Berichte (Biblionetz:t26403) zu GPT-3 (Biblionetz:w03164) vermutlich eher übertrieben (Biblionetz:t26404) sind, zeigen sie doch eine mögliche Richtung auf.

(Und natürlich ist GPT-3 nichts als das Ergebnis einiger grosser Rechner, welche den gesamten Inhalts des Internets mit Hilfe von schon seit Jahrzehnten bekannten Algorithmen (neuronale Netzwerke) verarbeiten - insofern gibt es nichts Neues unter der Sonne. Es dürfte aber klar sein, dass diese Bauteile erst mit der Leistungsfähigkeit aktueller Computer und der schieren Datenmenge des Internets und der sozialen Medien unter Umständen emergente Eigenschaften entwicklen werden, die bisher selten bedacht worden sind. In diesem Sinne ist es dann eben doch ein neuer Wandel, auch wenn sich dessen Anfänge 50 oder noch mehr Jahre zurückverfolgen lassen).

Mir geht es aber weniger darum, darüber zu streiten, ob jetzt machine learning den nächsten Wandel darstellt oder ob es sich nur um einen medialen Hype handelt. Ich bin aber ingesamt überzeugt davon, dass wir noch nicht am Ende des Digitalen Wandels angekommen sind. Da kommt noch mehr, das uns fordern wird.

Es gibt aber noch einen weiteren Grund, warum ich diese Diskussion nicht für abstraktes Philosophieren halte: Gerade in konkreten Diskussionen wie Philipp Wampfler sie beschreibt, bekomme ich öfters zu hören: "Aber wir sind schon digital unterwegs - wir müssen nichts mehr transformieren!" Da wird dann jeweils deutlich, dass der digitale Wandel aus vielen kleineneren Wandeln besteht und das Gegenüber stolz darauf ist, einen oder mehrere dieser kleinen Wandel bereits erfolgreich gemeistert zu haben. Wir müssen also auch in ganz konkreten Diskussionen aufzeigen, wo man in dieser Abfolge von Wandeln steht. Dass diese Abfolge noch nicht zu Ende ist, darf aber selbstverständlich kein Freipass sein zu sagen: "Wir müssen doch erst abwarten, wohin das alles führt!"

Ich habe versucht, in einer weiteren Grafik einige kleinere Wandel im grossen Wandel aufzuzeigen. Die konkrete Wahl bestimmter Begriffe ist bis zu einem gewissen Grad wahllos und irrelevant (bzw. das Hobby alter weisser Männer auf Twitter…). Meine Überlegung war: Welches waren Erfindungen/Entwicklunglen/Wandel, die mehr als einen gesellschaftlichen Bereich stark geprägt haben. Dabei bin ich auf die (vorläufige Abfolge Grossrechner, PC, Internet, social media, machine learning gekommen. Bereits vor der Entwicklung des ersten PCs sprach man von einer Informationsgesellschaft und überlegte sich die Folgen des zunehmenden Einsatzes von Grossrechnern auf Arbeitsplätze, Verwaltung und Politik. Aus meiner Sicht waren dann der PC, das Internet und die sozialen Medien weitere wichtige Zäsuren in dieser Entwicklung.

vielekleinewandel.jpg

Gerade weil es diese grossen und kleinen Wandel gibt, halte ich meine Grafiken für nicht ganz überflüssig. Mindestens mir helfen sie in Diskussion zu klären, worüber wir grad diskutieren.


 
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