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Gaslaternen-Forschung

20 July 2022 - Version 2 - BeatDoebeli

Die wachsende Bedeutung der digitalen Transformation für die Bildung aber auch die Corona-Pandemie führen dazu, dass in meiner Wahrnehmung derzeit wieder vermehrt Evaluationen der Nutzung digitaler Medien in der Schule durchgeführt werden. In den meisten Fällen werden dazu Fragebogen für Schüler:innen und Lehrpersonen zu deren Selbsteinschätzung von digitaler Kompetenz und Nutzung digitaler Medien zu Lehr- und Lernzwecken verwendet.

In jüngerer Vergangenheit sind mir dabei mehrere Fälle begegnet, bei denen in meiner Einschätzung veraltete Fragen und/oder Skalen verwendet worden sind. Zwei Beispiele.

Beispiel 1: Erhebungsinstrument von 2010

In einer 2021 veröffentlichten Publikation (Biblionetz:t28997) wird zur Erhebung der verfügbaren IT-Infrastruktur ein Erhebungsinstrument aus dem Jahr 2010 verwendet:

Zur Erfassung der technischen Schulausstattung wurde ein Erhebungsinstrument von Breiter et al. (2010) verwendet, welches die Zugangsmöglichkeiten zu sieben digitalen Endgeräten in der Schule und spezifisch für den eigenen Unterricht erfasst. Folgende Endgeräte wurden berücksichtigt: Rechner im Unterrichtsraum, Computerraum, Laptop-Klassensätze, Tablet-Klassensätze, mobile Präsentationseinheiten, Smartboards sowie digitale Kameras, Fotokameras, Aufnahmegeräte. In der vorliegenden Studie wurde die Originalkodierung (0= nicht an der Schule vorhanden; 1= jederzeit Zugang im Unterricht; 2= Zugang nur nach Anmeldung und Absprache; 3= in unserer Schule nicht vorhanden) angepasst: 0= nicht an der Schule vorhanden, 1= an der Schule vorhanden. Hieraus wurde ein Summenscore gebildet, welcher eine Aussage über die Anzahl beziehungsweise Vielfalt der an der Schule vorhandenen Endgeräte macht (Min/Max: 0/7).

Die Verwendung eines über 10 Jahre alten Erhebungsinstruments zur Selbsteinschätzung der IT-Infrastruktur ist für mich hoch problematisch, da die IT-Infrastruktur zu denjenigen Aspekten der digitalen Transformation gehört, die sich rasch entwickeln. Konkret: Während dieses Instrument im Jahr 2010 eventuell die damals wünschenswerte Vielfalt abbilden konnte, passt es nicht mehr zur heutigen Zeit. Wer verwendet heute noch «Aufnahmegeräte» (gemeint sind vermutlich Diktiergeräte) mit Schülerinnen und Schülern deren Audiodateien zur Weiterverarbeitung danach mühsam mit Kabel oder Speicherkarten auf moderne Geräte (Tablets, Smartphones) übertragen werden sollten (die weder über die dafür notwendigen Speicherkartenleser oder Kabelanschlüsse verfügen), wenn leistungsfähige Tablets und Smartphones zur Verfügung stehen? Im Extremfall einer Schule mit einer 1:1-Tablet-Ausstattung kann das Erhebungsinstrument von Breiter et al. von 2010 den Wert 0 ergeben, da die Schule weder über Computerräume, Computer- oder Tablet-Klassensätze noch über analoge oder digitale Kameras, Diktiergeräte oder interaktive Whiteboards verfügt.

Egal was und mit welchen statistischen Methoden mit einem auf dies Art und Weise erhobenen Wert gerechnet und letztendlich geschlussfolgert wird: Es ist problematisch – oder wie Informatiker:innen sagen würden: GIGO: Garbage in – Garbage out. Es hilft übrigens nichts, wenn in solchen Fällen errechnet und geschlussfolgert wird, dass die IT-Ausstattung keinen Einfluss auf andere untersuchte Variablen habe und damit der IT-Ausstattung eigentlich keine grosse Bedeutung zukomme. Auch diese Aussage steht auf sehr wackligen Füssen.

Beispiel 2: Veraltete, abgeschnittene Antwortskala

Aktuell befragt das Institut für Erziehungswissenschaft der UZH zusammen mit der eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung (EHB) Lehrpersonen der Sekundarstufe II in der Schweiz zur Nutzung digitaler Medien im Unterricht. Dabei wird u.a. folgende Frage gestellt:

Betrachtet man die zur Verfügung gestellte Antwortskala dieser Frage, so fällt auf, dass sie weder vollständig noch ausbalanciert ist. So ist es zwar möglich, mit «nie» zu antworten, nicht aber mit «jede Unterrichtsstunde». Mehrere Lehrpersonen haben sich bei mir gemeldet, dass sie diese Fragen teilweise gar nicht wahrheitsgemäss ausfüllen könnten…

Gaslaternen-Forschung

In Anlehnung an den Begriff der Strassenlaternen-Forschung (Biblionetz:w03285), welcher die Tendenz beschreibt, dort zu forschen, wo die Daten am leichtesten verfügbar sind, nenne ich solche Forschung künftig Gaslaternen-Forschung (Biblionetz:w03362). Damit beschreibe ich das Phänomen, in sich wandelnden Untersuchungsfeldern veraltete Evaluationsinstrumente und -skalen zu verwenden, weil diese bereits validiert und publiziert sind.

Probleme von Gaslaternen-Forschung

Gaslaternen-Forschung hat für mich zwei Probleme. Das offensichtliche – Garbage in / Garbage Out – habe ich bereits angesprochen. Es ist frustrierend zu sehen, wie oft mit viel Statistik versucht wird, aus veralteten Erhebungsinstrumenten valide Erkenntnisse zu gewinnen.

Auf einer Meta-Ebene ist für mich Gaslaternenforschung aber auch über das konkrete Forschungsvorhaben problematisch, weil sie meiner Meinung nach das Vertrauen in entsprechende Forschung untergräbt. Wer aufgefordert wird, Fragebogen mit solch veralteten Auswahlmöglichkeiten zu beantworten, verliert das Vertrauen in die Aussagekraft entsprechender Forschungsergebnisse und wird deshalb künftig (noch) weniger (oder nicht mit der notwendigen Ernsthaftigkeit) an entsprechenden Befragungen teilnehmen

Warum entsteht Gaslaternen-Forschung?

Angesichts der offensichtlichen Probleme von veralteten Erhebungsinstrumenten: Warum tun Forschende so etwas? Sie sind ja nicht blöd (oder mindestens nicht alle davon). Ich habe zwei Erklärungsansätze. Beide beruhen auf der Grundaussage: «Dazu existiert bereits ein publiziertes Erhebungsinstrument».

  • Fehlende Kompetenz im entsprechenden Thema: In meiner Wahrnehmung werden solche Erhebungsinstrumente oft von Forschenden verwendet, die zwar forschungsmethodisch kompetent sind, sich aber mit dem konkreten Aspekt des problematischen Erhebungsinstruments nicht auskennen und damit die Problematik des Instruments gar nicht erkennen.
  • Effizienz / Vergleichbarkeit / Publizierbarkeit der eigenen Untersuchung: Daneben gibt es auch Forschende, denen die Problematik veralteter Erhebungsinstrumente durchaus bekannt ist, sich aber trotzdem bewusst für deren Verwendung entscheiden. Dahinter stecken mehrere Begründungen, die sich letztendlich alle auf die Maxime Publish or Perish in der Wissenschaft zurückführen lassen:
    • Effizienz: Es ist effizienter, ein bestehendes Erhebungsinstrument zu verwenden, als ein eigenes zu entwickeln.
    • Vergleichbarkeit: Wird ein bestehendes Erhebungsinstrument verwendet, so lassen sich die Daten der eigenen Erhebung mit derjenigen früherer Erhebungen vergleichen. Damit sind unter Umständen interessante längsschnittliche Aussagen machbar.
    • Publizierbarkeit: Sowohl die Verwendung etablierter Erhebungsinstrumente als auch längsschnittliche Vergleiche erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass eine entsprechende Publikation akzeptiert wird, da dies zeigt, dass die Autor:innen sich mit der bereits publizierten Forschung beschäftigt haben (nein, diese Hypothese habe ich nicht empirisch geprüft).

 
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sixthsense

27 May 2009 - Version 2 - WikiGuest

Heinz Küng hat mich auf ein aktuelles TED-Video von MIT-Forscherin Pattie Maes aufmerksam gemacht, in welchem sie ihr Projekt sixthsense vorstellt.

'SixthSense' is a wearable gestural interface that augments the physical world around us with digital information and lets us use natural hand gestures to interact with that information.

Das Video hat mich ein paar Mal zum Schmunzeln gebracht und wieder mal bestätigt, dass die technische Entwicklung noch einiges zu bieten haben wird. Das Telefon in der Hand sieht ja wirklich nach science fiction vom Feinsten aus:

sixthsense.jpg

Bei aller Begeisterung als Technikfreak gilt es aber immer wieder zu bedenken, dass das technisch Mögliche nur die eine Seite der Medaille ist. Ob sich dies auch so verbreiten wird, ist eine ganz andere Sache. So ist es beispielsweise 10 Jahre (!) her, seit der Sony-Forscher Jun Rekimoto (Biblionetz:p03969) an der CHI 1999 gezeigt hat, wie augmented reality (Biblionetz:w01896) bei Meetings funktionieren könnte.

Ein Film der mich heute noch fasziniert, vielleicht gerade weil die Innovation den Weg in den Alltag noch nicht gefunden hat:

(Jun Rekimoto ist auch Mitentwickler von CyberCode (Biblionetz:w01163), einem 2D-Barcode-System (Biblionetz:w02048) aus dem Jahr 2000 (!), das seinen Weg in die Sony Vaio C1-Subnotebooks gefunden hat, dann aber leider wieder verschwand.

Meet the SixthSense interaction Pattie Maes + Pranav Mistry https://www.ted.com/talks/pattie_maes_pranav_mistry_meet_the_sixthsense_interaction?language=en (2009)

-- WikiGuest - 28 Jan 2022

 
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Der digitale Raum als vierter Pädagoge - Das AAA-Modell

21 January 2022 - Version 2 - BeatDoebeli

"Software prägt zunehmend unseren Alltag" ist ein Allgemeinplatz, den man bald nicht mehr hören mag. Trotzdem ernte ich derzeit erstaunte Blicke, wenn ich erkläre, dass digitale Lernumgebungen den Unterricht prägen und man deshalb bei der Wahl von entsprechender Software darauf achten sollte, ob die angedachte Software zum eigenen Schulleitbild passt. Ich habe mir deshalb überlegt, wie ich analog zur bekannten Aussage Der Raum als dritter Pädagoge (Biblionetz:a01431) die Thematik Der digitale Raum als vierter Pädagoge (Biblionetz:a01432) analysieren und verständlicher machen kann.

Als vorläufiges Zwischenergebnis bin ich zum AAA-Modell der Software-Prägung gekommen. In meiner Wahrnehmung prägt Software (und damit auch Lernsoftware oder Lernplattformen) auf drei Ebenen:

  • Aufmerksamkeit: Das Zur-Verfügung-Stellen einer Software schafft Aufmerksamkeit für ein Thema / ein (vermeintliches Problem

  • Affordance: Software legt gewisse Nutzungspraktiken nahe.

  • Ausschluss: Software definiert abschliessend, wer innerhalb der Software welche Handlungsmöglichkeiten hat.

Was meine ich mit diesen drei Ebenen konkret?

  • Aufmerksamkeit: Wenn ein Kanton oder eine Schulgemeinde eine Lernsoftware oder eine Lernplattform zur Verfügung stellt, dann ist dies nicht nur ein neutrales Angebot. Dahinter steckt auch die relativ unverbindliche Aussage "Wir denken, dass dieses Produkt für euch nützlich sein könnte" oder aber die bereits verbindlichere Aussage "Wir haben dafür Geld ausgegeben und erwarten eigentlich auch, dass ihr dieses Produkt nutzt." Dies gilt sowohl für Wandtafel als auch für persönliche Notebooks und Tablets.
    Konkrete Beispiele zum Überdenken dieser Hypothese:
    • Das deutsche Bundesland Nordrhein-Westphalen hat im Februar 2021 2.6 Millionen bezahlt, um allen Schulen die Angebote des Brockhaus-Verlags zur Verfügung zu stellen. (Quelle)
    • Der Bildungsraum Nordwestschweiz stellt den Schulen mit Mindsteps eine Aufgabensammlung zur Unterstützung des kompetenzorientierten Lernens und zur Erfassung des Lernstands von Schülerinnen und Schülern in den Fächern Deutsch, Englisch, Französisch und Mathematik zur Verfügung. (Quelle)

  • Affordance: Ich kann zwar mit einem Hammer auch die Wand streichen, aber das Werkzeug legt eher nahe, dass ich Nägel einschlage. Scheren legen meist durch die Form ihrer Löcher nahe, mit welcher Hand sie gehalten werden sollten etc. Wie jedes Werkzeug legt auch Software gewisse Arten der Nutzung nahe. Ich kann mit einer Textverarbeitung zwar auch eine Präsentation erstellen oder in einer Tabellenkalkulation durch Ausfüllen der Tabellenzellen ein Pixelbild malen, aber die Software legt doch gewisse Nutzungspraktiken nahe. Neben diesen offensichtlich plakativen Beispielen geschieht dies auch subtiler: Standardeinstellungen in Programmen werden meist übernommen und prägen somit die Art und Weise der Nutzung: In der Videokonferenzsoftware Zoom ist beispielsweise das private Chatten unter den Teilnehmenden per default unterbunden. Ich kann das zwar als Moderator einer Videokonferenz erlauben, muss aber dafür aktiv etwas umschalten.
    Konkrete schulische Beispiele zum Überdenken dieser Hypothese:
    • Welches Rollenverständnis vermitteln die Rollen und die dazu passende Standardeinstellung der entsprechenden Berechtigungen in einer Lernplattform wie Moodle?
    • Wie prägt die Leseförderungsplattform Antolin die Sichtweise auf das Lesen von Büchern durch die Möglichkeit des Punktesammeln beim korrekten Beantworten von Quizfragen zu den gelesenen Büchern?

  • Ausschluss: Während man sich bei der Affordance gegen die Vorgaben entscheiden und einen anderen Weg einschlagen kann, ist dies nicht immer möglich. Software schafft nicht nur Möglichkeiten, sondern definiert auch abschliessende und innerhalb der Software unüberwindbare Grenzen dieser Möglichkeiten. Software definiert abschliessend, wer innerhalb der Software welche Handlungsmöglichkeiten hat. Diese Einschränkungen können sowohl in den Datenstrukturen als auch in den Prozessen liegen. Wenn das Computersystem, mit dem die Schweiz die Pässe der Bürgerinnen und Bürger verwaltet, bestimmte Sonderzeichen nicht kennt, dann lassen sich beispielsweise gewisse Namen schlicht nicht korrekt speichern und im Pass abdrucken.
    Konkrete schulische Beispiele zum Überdenken dieser Hypothese:
    • Im Identitätsförderationssystem edulog (Biblionetz:w03014) der EDK kann eine Person nicht gleichzeitig Lehrperson und SchülerIn sein.
    • Während ich auf einem Blatt Papier auch bei einer Lückentextaufgabe ein Bild hineinzeichnen kann, wird das in digitalen Lückentexten in den wenigsten Fällen funktionieren.

Diese Überlegungen sind erst vorläufig und können sich noch ändern/erweitern. Dabei liessen sich diese Beschreibungen problemlos detaillierter und komplexer machen, entsprechende Literatur und Modelle dazu gibt es genügend. Mein Ziel ist aber auch hier, Modelle und Erklärungen zu finden, die noch für die Schulpraxis verständlich und handlungsleitend sein können.

 
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