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Das Lehrplan-Märchen von avenir suisse

Anfang Oktober 2017 hat der liberale Think-Tank avenir suisse die Studie Wenn die Roboter kommen - Den Arbeitsmarkt für die Digitalisierung vorbereiten (Biblionetz:b06589) publiziert. Darin fordert avnir suisse primär eine Flexibilisierung der Arbeitsgesetze und wehrt sich gegen eine stärkere staatliche Regulierung aufgrund der Digitalisierung. Darüber lässt sich diskutieren, will ich aber an dieser Stelle nicht.

Unter anderem beschäftigt sich die Publikation auch mit Bildungsfragen und thematisiert auf Seite 64 die Volksschule und den Lehrplan 21 (Biblionetz:w02172). Über den folgenden Abschnitt habe ich mich gleich mehrfach geärgert:

Den grössten Rückstand bei der Digitalisierung hat sich die Schweiz aber in der Volksschule eingehandelt. In Deutschland gibt es Informatikunterricht teilweise ab der 5. Klasse, auch Italien und Frankreich sind diesbezüglich fortschrittlicher. Es ist zu begrüssen, dass «Medien und Informatik» nun als fächerübergreifendes Modul im Lehrplan 21 vorgesehen ist. Bezeichnenderweise liegt das Schwergewicht aber auf sozialen Medien und deren Nutzung. Das spiegelt eine Grundhaltung zu digitalen Themen an vielen Schweizer Volksschulen: Digitale Medien sind a priori problematisch, und deren Nutzung muss in Bahnen gelenkt und reguliert werden. Es ist bestimmt sinnvoll, dass die Schulen eine vernünftige und kritische Nutzung digitaler Medien unterstützen. Wesentlich dringender ist aber die Einführung von Informatik (nicht Medienkunde) als reguläres Schulfach, in dem die zentrale Kompetenz des 21. Jahrhunderts gelehrt wird. Jede und jeder sollte wenigstens in den Grundzügen verstehen, wie diese Maschinen technisch funktionieren und – noch wichtiger – auf welchen Prinzipien und innerer Logik die Digitalisierung fusst. Die geforderte breite Digitalisierungsoffensive an den Primar- und Sekundarschulen wird nicht auf dem regulären Weg der Lehrerbildung oder Weiterbildung an den pädagogischen Hochschulen (PH) zu erreichen sein. Dies würde rund 30 Jahre dauern. Um den absehbaren Engpass bei qualifiziertem Lehrpersonal zu entschärfen, wird man nicht umhinkommen, auf die Mithilfe der Privatwirtschaft zurückzugreifen und die vermehrte Rekrutierung von Quereinsteigern ins Auge zu fassen.

Ich möchte folgendes richtig stellen:

"Medien und Informatik" wird in den meisten Kantonen als Fach umgesetzt

  • Fakt ist: Im Lehrplan "Medien und Informatik" (Biblionetz:t17600) steht:
    "Für die Arbeit an den Modulen definieren die Kantone die Zeitgefässe und die Zuständigkeiten der Lehrpersonen. Die zur Verfügung stehenden Zeitgefässe können von den Schulen flexibel eingesetzt werden. Dabei kommen Organisationsformen zur Anwendung, welche auch bei begrenzten Zeitressourcen eine effiziente Unterrichtsgestaltung fördern (z.B. Blockkurse)."
    Zeitgefässe heisst nicht fächerübergreifend. Zahlreiche Kantone haben auch bereits beschlossen oder gar umgesetzt, dass "Medien und Informatik" ab der 5. Klasse ein eigenes Schulfach wird (z.B. ZH, SG, BE, GR, SO, TG, AR), in anderen Kantonen ist ein Fach ab der 7. Klasse vorgesehen (z.B. LU, SZ, ZG).
  • Meine Einschätzung: Ja, es ist bedauerlich, dass M+I nicht überall ab der 5. Klasse als eigenes Fach geführt wird. Aber die von avenir suisse gemachte Aussage "fächerübergreifend" entspricht nicht der Realität.

"Medien und Informatik" enthält gleich viel Informatik wie Medien*

  • Fakt ist: Der Lehrplan M+I enthält einen Kompetenzaufbau zu Medien und einen Kompetenzaufbau zu Informatik. Bildungspolitisch wurde bei der Erarbeitung darauf geachtet, dass beide Teile das gleiche Gewicht erhalten.
  • Meine Einschätzung: Ich kann nicht nachvollziehen, woraus avenir suisse ein Schwergewicht auf der Nutzung von sozialen Medien ableitet. Habe ich bereits im Februar 2017 gefragt, habe nie eine Antwort erhalten:

Medien und Informatik" erklärt die Grundprinzipien der Digitalisierung

  • Fakt ist: Auf Seite 4 von M+I steht: "Der Kompetenzbereich Informatik befasst sich mit der Automatisierung der Informationsverarbeitung. Die Schülerinnen und Schüler lernen, Daten als symbolische Darstellung von Information zu verstehen und gewinnen Einblick in die Prinzipien und Methoden der Verwaltung, Auswertung und Sicherheit von Daten. Ausgehend von der Beschreibung und Analyse einfacher Abläufe lernen die Schülerinnen und Schüler, grundlegende Lösungsstrategien für eine Vielfalt von Aufgabenstellungen zu verstehen und als Algorithmen zu beschreiben. Beim Programmieren werden Prozesse und Abläufe in eine Sprache übersetzt, die der Rechner versteht und so eine automatisierte Verarbeitung von Daten erlaubt. Verschiedene Grundkonzepte der Informatik können dabei auch ohne Computereinsatz vermittelt werden."
    Im Kompetenzaufbau Informatik sieht der Lehrplan 21 vor: "Schülerinnen und Schüler können Programme mit Schleifen, bedingten Anweisungen und Parametern schreiben und testen."
  • Meine Einschätzung: Wie dies in den Schulen konkret umgesetzt wird, bleibt abzuwarten. Es steht aber so im Lehrplan drin. Weiss das avenir suisse nicht oder ignoriert sie das mit Absicht?

Kantone verlangen M+I-Weiterbildungen meist innert fünf Jahren

  • Fakt ist: Einige Kantone haben Weiterbildungsoffensiven im Bereich M+I gestartet. Lehrpersonen müssen obligatorische Weiterbildungskurse im Umfang von teilweise mehreren Wochen besuchen. Die Kantone haben zur Erfüllung dieser Weiterbildungsobligatorien Fristen gesetzt, die sich meist auf 5-7 Jahre erstrecken.
  • Meine Einschätzung: Würden die PHs tatsächlich nur in der Ausbildung M+I vermitteln, so würde es tatsächlich 30-40 Jahre dauern, bis alle Lehrpersonen über die entsprechenden Kompetenzen verfügen würden - mit Weiterbildungen geht das aber schneller. Wie avenir suisse zu ihren 30 Jahren kommt, ist mir nicht verständlich.
    Die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen an PHs ist in der Tat eine grosse Herausforderung für die Kantone und PHs (und es ist in der Tat ein grosses Problem, dass einige Kantone keine oder viel zu kurze WEiterbildungen verlangen). Neben Geld und Zeit gilt es insbesondere, das notwendige Know-how zur Vermittlung von M+I zu finden. Insbesondere im Bereich Informatik ist es für pädagogische Hochschulen schwierig, entsprechende SpezialistInnen zu finden. In Einzelfällen klappt die Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft bestens, die Wunderlösung für den Fachkräftemangel im Spezialbereich Informatikdidaktik ist es angesichts des bekannten Fachkräftemangels in der Informatik mit Sicherheit nicht.

Fazit

Ich finde es ärgerlich und für einen Think-Tank bedauerlich, wenn avenir suisse nicht müde wird, ihre vorgefasste Meinung zum Thema Informatik im Lehrplan 21 zu wiederholen, obwohl sich zahlreiche Aussagen relativ einfach widerlegen lassen. Von einem Think Tank würde ich mehr Recherche und Tiefe erwarten.



 
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