You are here: Beats Weblog » Dagstuhl-Dreieck:

Dagstuhl-Dreieck: "Speak with one voice" reloaded

"Wir leben in einer digital geprägten Gesellschaft..."

Ach nee - #gähn! Die diese Woche publizierte Dagstuhl-Erklärung: Bildung in der digitalen vernetzten Welt beginnt ja wie jede x-beliebige Sonntagsrede eines Bildungspolitikers in den letzten 20 Jahren und könnte auch von meinem Medienkonzept-Blahfaselgenerator stammen. War es wirklich nötig, nochmals eine Erklärung abzugeben?

In diesem Beitrag möchte ich schildern, wie es zu dieser Erklärung kam und was für mich das Besondere an ihr ist.

Mitte Februar war ich ans Seminar Informatik@Schule 2016 - Das Verhältnis von informatischer Bildung und „Digitaler Bildung“ auf Schloss Dagstuhl eingeladen. Ich war sehr gespannt, hat es doch Schloss Dagstuhl geschafft, dass bereits eine Seminareinladung als Ehre zählt ( so schreibt mindestens die FAZ (Biblionetz:t18555)). Das mag sicher eine Rolle spielen, dass viele gerne die lange Reise nach Dagstuhl auf sich nehmen. Das Wichtigste dürfte aber eben gerade diese Abgeschiedenheit sein, die Möglichkeit eine halbe oder gar eine ganze Woche über einem Thema brüten zu dürfen.

In unserem Falle ging es um die Bedeutung informatischer Bildung (Biblionetz:w02382) in der heutigen Welt und ihr Verhältnis zum Begriff der digitalen Bildung, wie sie im aktuellen Koalitionsvertrag Deutschlands aufgeführt wird und von der diesjährigen Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Senatorin Dr. Claudia Bogedan als eines von zwei Schwerpunktthemen ihres Präsidialjahres postuliert wird.

Am Sonntagabend durften Werner Hartmann (Biblionetz:p00342) und ich ins Seminarthema einführen. Wir taten dies in Form eines Sketches, dessen inhaltlicher Kern aus 6 bildungspolitischen Thesen bestand:

  1. Die Begriffe «Informatische Bildung» und «Medienbildung» sind zu vermeiden, weil sie beide erblich mit einem Hegemonialanspruch vorbelastet sind.
  2. Informatik ist weniger wichtig als Lesen, Schreiben und Rechnen. Informatik ist gleich relevant wie Physik, Chemie, Biologie oder Geschichte: Sie ist nicht überlebenswichtig, aber relevant für ein Weltverständnis.
  3. «Digitale Bildung» ist nichtssagend und deshalb für bildungspolitische Zwecke und Diskussionen geeignet.
  4. «Information ist das Öl des 21. Jahrhunderts». Information ist wichtiger als Informatik. (Biblionetz:a00683)
  5. «Data is the new (s)oil»
    • Der Bauer braucht agricultural thinking.
    • Der Datenbauer braucht computational thinking.
  6. Das Problem ist P(hysik)-vollständig: «Warum müssen alle Physik lernen, obwohl nur wenige Dampfmaschinen gebaut haben?»

Aufgrund dieser (ja nicht wirklich neuen) Thesen und der anschliessenden Diskussionen wurde ich am kommenden Morgen gebeten, etwas über Struktur und Entstehungsgeschichte des Teillehrplans Medien und Informatik (Biblionetz:t17600) im Lehrplan 21 (Biblionetz:w02172) zu erzählen. Inhaltlich fokussierte ich in meinen Ausführungen auf die drei Bereiche des Teillehrplans:

img012.png

Insbesondere aber zitierte ich den Treiber des Computing in England, Simon Peyton Jones (Biblionetz:p12809), der an der ETH Zürich vor ein paar Jahren in einem Vortrag ein gemeinsames Vorgehen aller Beteiligten mit dem Auspruch Speak with one voice! empfohlen hatte und ich erwähnte, dass wir in der Schweiz dieses Vorhaben mit dem gemeinsamen Positionspapier von Vertretern der Informatik und der Medienbildung dann auch umgesetzt haben (Biblionetz:t15700).

one-voice.jpg
Auschnitt aus einem Tagungs-Dokumentationsposter der Scratch-Konferenz 2015

Spannend war dann, dass in den darauf folgenden Untergruppen diese Dreierstruktur übernommen, aber während längerer Zeit heftig und kontrovers diskutiert wurde. Erst als wir die drei Begriffe Anwendung, Medien und Informatik durch die neutralen Begriffe blau, grün und rot ersetzt hatten, waren sich inhaltlich plötzlich alle einig:

blau-gruen-rot.png

Faszinierend! Es waren nicht primär die Inhalte, über die gestritten worden war, sondern die historisch gewachsenen Begriffe. Sobald diese Begriffe fallen gelassen wurden, herrschte weitgehende Einigkeit.

Eine andere Untergruppe hatte offensichtlich weniger lange mit dem Diskutieren der bestehenden Begriffe verbracht, sondern die drei Kreise zu Seiten eines Dreiecks verwandelt und als Perspektiven digitaler Bildung umbenannt:

dagstuhl_dreieck.png

Das Dagstuhl-Dreieck (Biblionetz:w02886) definiert drei Perspektiven digitaler Bildung:

  • Technologische Perspektive: Wie funktioniert das? (Biblionetz:w02888)
    Die technologische Perspektive hinterfragt und bewertet die Funktionsweise der Systeme, die die digitale vernetzte Welt ausmachen. Sie gibt Antworten auf die Frage nach den Wirkprinzipien von Systemen, auf Fragen nach deren Erweiterungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. Sie erklärt verschiedene Phänomene mit immer wiederkehrenden Konzepten. Dabei werden grundlegende Problemlösestrategien und -methoden vermittelt. Sie schafft damit die technologischen Grundlagen und Hintergrundwissen für die Mitgestaltung der digitalen vernetzten Welt.
  • Gesellschaftlich-kulturelle Perspektive: Wie wirkt das? (Biblionetz:w02889) <br Die gesellschaftlich-kulturelle Perspektive untersucht die Wechselwirkungen der digitalen vernetzten Welt mit Individuen und der Gesellschaft. Sie geht z. B. den Fragen nach: Wie wirken digitale Medien auf Individuen und die Gesellschaft, wie kann man Informationen beurteilen, eigene Standpunkte entwickeln und Einfluss auf gesellschaftliche und technologische Entwicklungen nehmen? Wie können Gesellschaft und Individuen digitale Kultur und Kultivierung mitgestalten?
  • Anwendungsbezogene Perspektive: Wie nutze ich das? (Biblionetz:w02887)
    Die anwendungsbezogene Perspektive fokussiert auf die zielgerichtete Auswahl von Systemen und deren effektive und effiziente Nutzung zur Umsetzung individueller und kooperativer Vorhaben. Sie geht Fragen nach, wie und warum Werkzeuge ausgewählt und genutzt werden. Dies erfordert eine Orientierung hinsichtlich der vorhandenen Möglichkeiten und Funktionsumfänge gängiger Werkzeuge in der jeweiligen Anwendungsdomäne und deren sichere Handhabung.

Ich bin fasziniert von dieser Entwicklung und der Verwandlung der drei abgegrenzten Kreise zu drei Perspektiven auf einen gemeinsamen Gegenstand! Dieses Dreieck und das damit einhergehende in den Hintergrund rücken der Begriffe Informatik und Medienbildung stellen für mich den Kern der Dagstuhl-Erklärung dar.

Keine Sorge, ich bin und bleibe Informatiker! Die Vermittlung informatischer Grundkonzepte als wichtige Bestandteile einer Allgemeinbildung für das 21. Jahrhundert bleiben mir wichtig. Aber die Inhalte sind mir wichtiger als die Wort- bzw. Fachhülsen. Und wenn ich beobachte, wie durch das Weglassen belasteter Begriffe Grabenkämpfe überwunden und damit Schritte nach vorne gemacht werden können, hänge ich nicht an Begriffen.

Keine Sorge, ich bin nicht so naiv zu glauben, dass mit dieser Erklärung nun alle Probleme gelöst und Streitereien beigelegt sind. Dafür bin ich bereits zu lange in diesem Gebiet tätig. Aber es zeigt doch, dass man gemeinsam vorangehen kann.

P.S.: Es reut mich einzig, dass ich im kommende Woche erscheinenden Buch Mehr als 0 und 1 - Schule in einer digitalisierten Welt (Biblionetz:b06000) zwar von diesen drei Perspektiven schreibe, aber noch die alten Begriffe verwende.

P.S.2: Zur Problematik der Begrifflichkeiten gibt's es bereits aus dem Dezember 2013 ein Posting: Ach diese Begrifflichkeiten!


Kommentar von AloisHundertpfund:

Ein anregender Text. Bei der Auseinandersetzung in der ersten Gruppe geht es wohl darum, dass den Begriffen kein eindeutiger Gehalt zugesprochen wird. Jede/r versteht etwas anderes, wenn er/sie Begriffe verwendet oder hört. Bei den drei Farben werden sie jedoch so entleert, dass ein Streit darüber nicht nötig oder nicht möglich wird. Ein Begriff sollte Definitionsmerkmale aufweisen, die eine Definition des Begriffs ermöglichen. «Begriff kommt nicht von begreifen, sondern von begrenzen», sagten meine Ius-Dozenten. Das können Informatiker vielleicht von den Juristen, aber keinesfalls von den Pädagogen lernen. Letztere verwenden die Begriffe oft unterschiedlich, ohne dass sie sich daran oder aneinander reiben. Jeder darf, wie er will. Begriffe dürfen nicht zu «Wort- oder Fachhülsen» verkommen. Sie sind auch nicht unwichtiger als Inhalte, sondern sie dienen dazu, Inhalte so klar wie möglich zu transportieren.

-- AloisHundertpfund - 10 Mar 2016

Eine Frage: In Punkt 2 der Dagstuhlerklärung wird gefordert: Es muss ein eigenständiger Lernbereich eingerichtet werden, in dem die Aneignung der grundlegenden Konzepte und Kompetenzen für die Orientierung in der digitalen vernetzten Welt ermöglicht wird. Wie wird hier ein eigenständiger Lernbereich definiert? Soll das ein neues Unterrichtsfach sein?

-- RainerWiederstein - 11 Sep 2017

Aus meiner Sicht kann die Dagstuhl-Erklärung das nicht für alle Länder und alle Stufen pauschal klären. Das muss der jeweiligen lokalen Situation angepasst werden.

-- BeatDoebeli - 13 Sep 2017

sehr interessanter text. kenne dieses sprachliche framing-phänomen aus der sonderpädagogik: die begriffe "integration" vs. "separation" können praktisch nicht mehr wertneutral diskutiert werden ("integration" erhält von vorneherein vorschusslorbeeren für die positive telelogie) - ohne diese begriffe rückt die phänomenologische beschreibung dessen ins zentrum, was tatsächlich gemeint ist (im detail) und es wird schwieriger, heuristiken und stereotypen zu verwenden… finde ich ganz prima.

-- WikiGuest - 06 Feb 2020
 
Zum Kommentieren ist eine Registration notwendig.

Kategorien: IsaBlog, IsaInformatik, IsaMedienBildung

Kontakt

  • Beat Döbeli Honegger
  • Plattenstrasse 80
  • CH-8032 Zürich
  • E-mail: beat@doebe.li