Wir haben 2016, nicht 1984

Ich bin grad leicht schockiert und weiss eigentlich gar noch nicht wo anfangen mit reagieren. Titelstory in der heutigen Sonntagszeitung sind die 21'000 in der Schweiz vorhandenen staatlichen Überwachungskameras. Auf einer Doppelseite wird über die Zunahme an Kameras, aber auch über die Zweifel an der Wirksamkeit und die mit den Kameras verbundenen Gefahren berichtet.

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In einem Kommentar meldet sich der Redaktionsleiter unter dem Titel Wir haben 2016, nicht «1984» (Biblionetz:t18593) zu Wort.

Was ich da lese, scheint mir an Naivität nicht zu überbieten:

Denn tatsächlich haben die heutigen Überwachungsmassnahmen nichts mit Orwells Schreckensvision gemein. Wenn der Staat im öffentlichen Raum Kameras aufstellt, tut er dies nicht wie in «1984» um seiner selbst willen – sondern um die Bürger zu beschützen: vor Terroristen, Räubern, Pädophilen oder Hooligans.

Wie praktisch und effizient das Vorgehen ist, zeigen die vielen Fahndungserfolge: Die Schläger von Kreuzlingen, der Kinderschänder in Zürich oder auch die Attentäter von Boston – sie alle wurden gefasst, weil sie gefilmt worden waren. Kein Wunder, ist die Akzeptanz in der Bevölkerung gross. Eine deutliche Mehrheit befürwortet den Einsatz von Überwachungskameras mit der einleuchtenden Begründung, dass nur Kriminelle davor etwas zu befürchten hätten. Und dass die Daten ohnehin nur mit richterlicher Befugnis verwendet werden dürfen.

Ein anderes Resultat hätte im Zeitalter von Facebook auch überrascht. Wer Fotos und intimste Details aus seinem Privatleben freiwillig online stellt, kann nicht ernsthaft dagegen sein, beim Einkaufen gefilmt zu werden. Und wer einer privaten US-Firma vertraut – bei der niemand weiss, was sie mit den gesammelten Daten anstellt –, darf sich auch vor dem Schweizer Staat nicht fürchten.

Wir haben tatsächlich nicht 1984, sondern 2016. Die Schweiz hatte ihren Fichenskandal und 2013 gab es die NSA-Enthüllungen von Edward Snowden (Biblionetz:p13594). Wie kann man da noch ernsthaft behaupten, heutige Überwachung geschehe nur um die Bürger zu beschützen und die Daten würden nur mit richterlicher Befugnis verwendet? Als wüssten wir nicht besser, dass Daten aufgrund von technischen Pannen oder politischen Intrigen des öftern in falsche Hände geraten.

Wie kann man so unhinterfragt behaupten, es sei unbedenklich alle ungefragt dauernd zu überwachen, weil sich die meisten sowieso freiwillig in sozialen Netzen entblössen würden (Biblionetz:a01270) und wer nichts zu verbergen hätte, der hätte auch nichts zu berfürchten? (Biblionetz:a00840)

Gipfel der Naivität ist jedoch der Schluss des Meinungsartikels, in welchem Kunz empfiehlt, Orwells Roman 1984 (Biblionetz:b00221) nicht mehr in der Schule zu lesen:

Sinnvoller wäre die Forderung, «1984» als Lektüre an den Schulen abzuschaffen. Das Buch, erschienen 1949, war eine Anspielung auf den Überwachungswahnsinn in den mittlerweile längst implodierten kommunistischen Diktaturen. Wer Orwell heute noch anführt und laut «Big Brother» schreit, sobald irgendwo eine Kamera aufgestellt wird, hat das Buch nicht verstanden und verunglimpft die erfolgreichen Bemühungen demokratischer Staaten zum Schutze seiner Bürger.

Im Gegenteil ist es höchst dringlich und gehört zur Allgemeinbildung in einer digitalisierten Welt, die technischen Möglichkeiten und die gesellschaftlichen Konsequenzen einer immer stärkeren Überwachung aller Lebensbereiche zu diskutieren, damit man dem Thema nicht derart naiv gegenübertritt wie dieser Artikel in der heutigen Sonntagzeitung!

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