Informatik, Jun 2013

Jeder Schüler ein kleiner Programmierer?

30 June 2013 | Beat Döbeli Honegger | Informatik, Medienbericht
Der Tages Anzeiger stellt den überfachlichen Teillehrplan ICT und Medien (Biblionetz:t15600) ins Zentrum seiner Berichterstattung zum Beginn der öffentlichen Konsultation des Lehrplans 21 (Biblionetz:w02172):

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Unter dem Titel Jeder Schüler ein kleiner Programmierer (Biblionetz:t15492) (leider bisher nicht online verfügbar) werden Inhalt und die sich daraus ergebenden Herausforderungen für die Schule beschrieben. Dabei werden auch die informatischen Kompetenzbeschreibungen erwähnt:

Die Lernziele sind ambitioniert. Am Ende der sechsten Klasse sollen die Schüler unter anderem:
  • erklären können, wie Computer mittels 0 und 1 verschiedene Datentypen speichern (Bild, Text, Ton);
  • einfache Algorithmen erkennen, darstellen, selber erstellen und in einer geeigneten Programmierumgebung umsetzen und testen;
  • einfache Grösseneinheiten der Informatik benennen und abschätzen (Speicherplatz, Auflösung);
  • die Grundfunktionen der Medien benennen und dazu typische Beispiele aufzählen (Information, Bildung oder Unterhaltung);
  • erkennen, dass mediale und virtuelle Figuren und Umgebungen nicht eins zu eins in die Realität umsetzbar sind.

Ja, es hat auch Informatikkompetenzbeschreibungen im Lehrplan 21, denn Informatikkenntnisse gehören neben Anwendungskenntnissen und einem reflektierten und kritischen Umgang mit ICT (Medienbildung) im 21. Jahrhundert zur Allgemeinbildung. Nur weil Schülerinnen und Schüler Ende der sechsten Klasse

Bandornamente und Parkette aus Figuren bilden, weiterführen und verändern, Symmetrien beschreiben und beim Zeichnen nutzen

können sollten (wie im Fachlehrplan Mathematik zu lesen ist), bezeichnen wir sie trotzdem nicht als kleine Mathematiker oder als Plättchenleger. Informatische Themen sind neu und ungewohnt, darum entsteht rasch die Meinung, die verlangten Kompetenzen seien zu anspruchsvoll und speziell.

Sehr interessant ist der folgende Abschnitt des Artikels:

Der Lehrplan im Bereich ICT sei sehr ambitiös, sagt VSLCH-Präsident Bernard Gertsch. «Wir befürchten, dass Schüler, Eltern und Lehrer von den Anforderungen überfordert sind.» Bis die Lehrer in der ganzen Deutschschweiz den Schülern alle diese Kompetenzen vermitteln können, brauche es noch viel Arbeit, sagt Gertsch. Es sei noch nicht klar, wer ICT unterrichten werde. Die meisten Lehrkräfte bräuchten eine intensive Aus- oder zumindest Weiterbildung. Die Schulleiter müssten in ihren Schulen herausfinden, wer sich für den ICT-Unterricht eigne. «Die Basis der Lehrkräfte ist sich noch nicht bewusst, was da auf sie zukommt.»
(VSLCH = Verband der Schulleiterinnen und Schulleiter)

Derzeit sind die im Teillehrplan ICT und Medien beschriebenen Kompetenzen als überfachlich definiert, mit der Begründung, sie müssten in alle Fächer integriert werden. Da passt für mich die Formulierung "Es sei noch nicht klar, wer ICT unterrichten werde." irgendwie nicht. Klar, ja: Es ist eine Herausforderung, es braucht Weiterbildung! (Biblionetz:a00280) Aber diese Herausforderung stammt nicht von den Lehrplan 21-Entwicklern, sondern von der soziotechnischen Entwicklung. Die Herausforderung ist da, auch ohne Lehrplan 21.

Wenn bereits jetzt gefragt wird, wer denn das unterrichten soll, dann ist dies ein weiteres Argument für die Forderung nach einem Fach für das Thema (Biblionetz:a00436, Biblionetz:a00980). Damit ist Verbindlichkeit gegeben, damit ist ein Zeitgefäss und eine Lehrperson definiert. Ansonsten droht das Thema einfach unterzugehen, indem es nicht gelehrt wird, obwohl es verpflichtend wäre. Dass dem so ist, kann man anhand der heutigen ICT-Lehrpläne sehen, die meist verpflichtend sind, aber in der Schulrealität oft nicht umgesetzt werden.


Lieber Beat
Hier noch der Link zum oben besprochenen Artikel: http://www.tagesanzeiger.ch/ipad/schweiz/Jeder-Schueler-ein-kleiner-Programmierer-/story/19120269
Liebe Grüsse, Silvie

-- Main.SilvieSpiess - 30 Jun 2013 Danke für den Hinweis!

-- Main.BeatDoebeli - 30 Jun 2013

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An der gestrigen 30-Jahres-Feier der Schweizer Informatik Gesellschaft (SI) durfte ich einige Gedanken zum Stellenwert der Informatik in der Bildung präsentieren.

Es wäre preaching to the converted gewesen, wenn ich in meinem Referat vor lautern Informatikern die Bedeutung der informatischen Bildung und deren Fehlen in der heutigen Schule breit ausgewalzt hätte. Stattdessen habe ich angesichts der kommenden Vernehmlassung des Lehrplans 21 und anderer bildungspolitischer Debatten versucht, dem Publikum Argumente für Informatik in der Schule mitzugeben.

Aufgehängt habe ich diese Argumente an der häufig zu hörenden Metapher JavaScript ist das neue Latein! (Biblionetz:a01160)

Auf der Website www.latigrec.ch finden sich sechs Argumente, warum es sich auch heute lohnt, Latein und Griechisch zu lernen. Praktisch jedem dieser Argumente für Latein und Griechisch lässt sich ein äquivalentes Argument für Informatik zur Seite stellen:

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Sowohl Latein und Griechisch als auch Informatik behaupten von sich, die Problemlösekompetenz von Schülerinnen und Schülern zu fördern (Biblionetz:a01052). Faszinierend finde ich dabei, dass die Argumentation der Altphilologen sich praktisch 1:1 mit derjenigen der Informatik deckt, bzw. die Informatiker fast vermuten müssten, jemand habe von ihnen abgeschrieben. Beide Fachgebiete berufen sich auf divide et impera bzw. divide and conquer (Biblionetz:w00976):

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Das Lernen von Alten Sprachen fördert Eigenschaften, die für andere Schulfächer, das Studium und für den späteren Beruf wichtig sein können. Die Rede ist von der Analyse eines Problems, das zum Zweck der Übersichtlichkeit in seine Bestandteile zerlegt und nach der Klärung der einzelnen Komponenten wieder zu einem Ganzen zusammengefügt wird.

Ersetze Alten Sprachen durch Informatik !

Beide Fachgebiete müssen übrigens zur Kenntnis nehmen, dass sich die postulierten Transfereffekte nur schwer oder gar nicht nachweisen lassen:

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Im zweiten Teil des Referats war dann die Kost für das Publikum schwieriger zu verdauen. Ich habe in einer Kürzest-tour-d'horizon die Idee des Leitmedienwechsels (Biblionetz:w02306) und meine aktuelle Leitmedienwechselreaktionsskala (Biblionetz:f00154) präsentiert. Daraus abgeleitet habe ich die Aussage, dass sich die Informatik bildungspolitisch nicht darauf versteifen dürfe, nur die Informatik zu fördern und alle durch den Leitmedienwechsel ausgelösten bildungspolitischen Fragen als aus informatischer Sicht irrelevant zu betrachten.

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In einer gesamtheitlicheren Sichtweise müssen die Informatik-Grundlagen zusammen mit Anwendungskompetenzen und Medienbildung betrachtet werden, insbesondere bezüglich Lehrplan 21.

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Für mich stellt Informatische Bildung (Biblionetz:w02382), bestehend aus den drei Säulen
  1. Informatik-Grundlagen
  2. Anwendungskompetenzen
  3. Medienbildung
die Voraussetzung dar, um den Leitmedienwechsel verstehen und entsprechend kompetent in der Informationsgesellschaft agieren zu können.

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