Selektives Zitieren
Auch in seinem neuesten Buch
Cyberkrank! (
Biblionetz:b05989) beherrscht
Manfred Spitzer die Kunst des selektiven Zitierens perfekt. Ein erstes Beispiel: Im Kapitel
Digitale Jugend: unaufmerksam, ungebildet und unbewegt (
Biblionetz:t18304) fasst er die Ergebnisse der Studie
Lernen in Notebook-Klassen (
Biblionetz:b03327) folgendermassen zusammen:
Betrachtet man nun die von Spitzer zitierten Aussagen im Kontext, so ändert sich das Gesamtbild.
Spitzer zitiert:
Insgesamt kann die Studie somit keinen eindeutigen Beleg dafür liefern, dass die Arbeit mit Notebooks sich grundsätzlich in verbesserten Leistungen und Kompetenzen sowie förderlichem Lernverhalten von Schülern niederschlägt.
Auf der gleichen Seite schreiben die Studien-Autorinnen jedoch auch:
Die Auswertung der Ergebnisse zu Lernverhalten,
Fachleistungen und fachübergreifenden Kompetenzen
zeigt, dass Schülerinnen und Schüler in Notebook-
Klassen zumindest die gleichen und in einigen
Teilbereichen auch etwas höhere Werte erreichen als
Schülerinnen und Schüler herkömmlich unterrichteter
Klassen. Viele der berichteten Unterschiede sind dabei
zwar statistisch signifikant, d. h. sie liegen außerhalb
des Bereichs der zufälligen Schwankungen.
und
Dass die Notebook-Schüler trotz der
großen Heterogenität des Einsatzes von Notebooks
und vor dem Hintergrund der teilweise eher ungünstigen
Rahmenbedingungen dennoch in vielen Tests
und Befragungen in der Tendenz besser abgeschnitten
haben als Schüler in herkömmlich unterrichteten
Klassen, ist insgesamt positiv zu bewerten. Auch
liefern die Ergebnisse keine Anhaltspunkte dafür, dass
sich die Arbeit mit Notebooks leistungsmindernd
auswirkt.
und
Notebook-Schüler zeigen in der Tendenz eine positivere Einstellung zu Schule und Unterricht als Nicht-Notebook-Schüler.
und
Die Mehrheit der Lehrerinnen und Lehrern beobachtet
eine Zunahme der Selbstständigkeit der Schüler
in Notebook-Klassen. Sie beziehen sich dabei zum
einen auf den Umgang mit dem Computer, aber auch
auf das Lösen von Unterrichtsaufgaben und die kooperative
Organisation von Gruppenarbeiten.
Die Schülerinnen und Schüler gehen motivierter zur Schule, werden selbstständiger und lernen minimal besser, aber Manfred Spitzer fasst dies (siehe Bildlegende) zusammen mit
"keine positiven Auswirkungen auf den Lernerfolg." Für mich ist Motivation und Selbständigkeit auch ein Lernerfolg - vor allem wenn dabei die reinen Prüfungsleistungen nicht schlechter werden.
Auch zum von Spitzer herausgegriffenen Zitat
die Schüler im Unterricht mit Notebooks tendenziell unaufmerksamer
findet sich auf der gleichen Seite der Studie ebenso die Aussage
Von einem Teil der Lehrerinnen und Lehrer wurde allerdings auch eine Erhöhung der Konzentration im Notebook-Unterricht
beobachtet, die sich durch die Motivation im Umgang mit dem Gerät einstellt.
Einmal mehr biegt sich Manfred Spitzer seine Wirklichkeitswahrnehmung zurecht, indem er sehr selektiv aus Studien zitiert, dies aber mehrfach als objektive Wissenschaft darstellt.
Mich ärgert das nicht nur bezüglich des konkreten Inhalts, sondern auch weil Spitzer damit "Wissenschaft" in den Dreck zieht, indem er seine vorgefasste Meinung unter den Deckmantel "Wissenschaft" zu packen versucht.
P.S.: Ja, auch ich habe hier sehr selektiv zitiert. Aber ich habe weder die Zeit noch die Lust, diese Quellenarbeit bei allen von Spitzer zitierten Studien zu leisten. Bereits dieses Beispiel zeigt, dass mindestens Vorsicht angebracht ist.
Kommentare:
Spitzer läßt die nicht meßbaren und daher tendenziell subjektiven Aussagen in dem Text weg, z.B. Begriffe wie "Selbständigkeit" und "Motivation". Selbständigkeit ist nicht meßbar und jeder versteht etwas anderes darunter, echte Kriterien sind nicht angegeben. Vielleicht waren die Notebook-Schüler nur deswegen scheinbar selbständig, weil sie (für Lehrer sehr praktisch) in ihre Rechner vertieft waren - was bei der Beschäftigung mit Computern eben gerne mal passiert? Haben die Nicht-Notebook-Schüler einfach nur mehr nachgefragt, um sich bei einer erfahrenen Lehrkraft über Bewertungskriterien zu vergewissern? Man weiß es nicht, und deshalb ist eine Aussage darüber wertlos (macht sich aber gut in einer vom Ministerium finanzierten Studie).
Wenn "ein Teil der Lehrerinnen und Lehrer" etwas "beobachtet", dann ist das nicht nur höchst subjektiv, sondern es kann sich auch um einen einzigen Lehrer oder eine einzige Lehrerin handeln.
Die Verlinkung zu der Studie (die vielleicht echte Zahlen enthielte) existiert hier im Blog/Wiki ja leider nicht mehr.
Insofern freue ich mich, daß sich Herr Spitzer auf seine Profession besinnt, nicht auf Marketingsprech hereinfällt, sondern das herausfiltert, was wesentlich ist.
In diesem Artikel darauf abzuheben, vermeintlich positive - aber rein subjektive - Auswirkungen bei immerhin nicht schlechteren Leistungen seien ein Erfolg des betriebenen Aufwands, ist schon sehr speziell.
Es gibt übrigens Maßnahmen, die aufgrund belastbarer Studien eine Verbesserung von meßbaren 40% erzielen. Dafür interessiert sich aber keiner, weil keine Notebooks, Tablets oder dergleichen im Spiel sind…
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SchneiderU - 19 Oct 2016
Die Studie ist u.a. unter
https://beat.doebe.li/publications/not-from-me/2007-n21evaluationsbericht.pdf downlaodbar.
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BeatDoebeli - 19 Oct 2016
Tja, auch Spitzer zitiert subjektive Beobachtungen
("tendenziell unaufmerksamer"), somit bleibt mein Vorwurf: Spitzer pickt sich bei vielen Studien exakt das raus, was in sein Weltbild passt.
Die Frage, ob von Lehrkräften beobachtete Selbständigkeit und Motivation ein Mehrwert sind oder ob nur nach alten Prüfungen festgestellte Leistungen etwas gelten führt uns zur Grundsatzfrage, was denn die Aufgabe von Schule in der Informationsgesellschaft ist…
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BeatDoebeli - 19 Oct 2016
Um das zu beurteilen, muss man die Effektstärken kennen, denn signifikant ist bald was bei diesen Stichproben!
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WernerStangl - 23 Oct 2016
Herr Döbeli, kann es sein, dass Sie selber selektiv zitieren?
Sie zitieren aus der Studie:
«Viele der berichteten Unterschiede sind dabei zwar statistisch signifikant, d. h. sie liegen außerhalb des Bereichs der zufälligen Schwankungen.»
Die anschliessenden, von Ihnen nicht zitierten Sätze in der Studie lauten:
«Ihre praktische Bedeutung ist dennoch häufig gering, d.h. die Unterschiede zwischen Notebook-Schülern und Nicht-Notebook-Schülern sind minimal.»
Und dann der von Spitzer zitierte Satz:
«Insgesamt kann die Studie somit keinen eindeutigen Beleg dafür liefern, dass die Arbeit mit Notebooks sich grundsätzlich in verbesserten Leistungen und Kompetenzen sowie förderlichem Lernverhalten von Schülern niederschlägt.»
Ich sehe das Problem nicht. Spitzer zitiert die Folgerung der Studie richtig. Es ist für mich weder "selektiv zitiert" noch publizistisch illegitim, wenn in einem Buch, das auf eine Studie verweist, nicht auch noch auf die hinterletzte Eventualität daraus eingegangen wird, um auf den Punkt zu kommen. Im Übrigen leuchtet mir ein, was
SchneiderU bereits geschrieben hat.
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AndreasS - 19 Dec 2017
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