Die Lüge vom digitalen Entweder-Oder
Dieser Tage ist das Buch von Gerald Lembke und Ingo Leipner mit dem reisserischen Titel
Die Lüge der digitalen Bildung (
Biblionetz:b05879) erschienen.
Die beiden Autoren kritisieren in 13 Kapiteln die aus ihrer Sicht fehlgeleitete Nutzung digitaler Medien bei Kindern und Jugendlichen von der Zeit vor der Geburt bis ins Studium. Ihre Aussagen sind meist sehr plakativ und folgen einer schwarz-weissen Entweder-Oder-Logik:
[Es] zeigt sich in der bisherigen Praxis, dass es pädagogisch keinen echten Sinn macht, vor dem 12. Lebensjahr Computer im Unterricht einzusetzen.
Aussagen wie diese (
Biblionetz:a01257) eignen sich zwar für plakative Aussagen zur Steigerung der Verkaufszahlen, spiegeln aber die heutige Realität in keiner Art und Weise wider.
Die Forschung gibt klare Antworten: Kinder brauchen eine starke Verwurzelung in der Realität, bevor sie sich in virtuelle Abenteuer stürzen. Ihr Gehirn entwickelt sich besser, wenn kein Tablet oder Smartphone reale Welterfahrung verhindert. Kinder sollten lieber im Matsch spielen als mit Tablets das ist der beste Weg, um für das digitale Zeitalter fit zu werden.
Kinder benötigen reale und nicht virtuelle Erfahrungen (
Biblionetz:a00295) ist ein typisches Beispiel eines plakativen Dilemmas, das aber im realen Alltag nicht viel weiterhilft. Niemand würde ernsthaft der Aussage widersprechen wollen, dass Kinder reale Erfahrungen benötigen und dass der Wald dafür eine gute Lernumgebung darstellt. Aber weder verhindern digitale Medien den Aufenthalt im Wald noch sind Kindergärten und Schulen ohne digitale Medien häufiger im Wald als solche mit digitalen Medien. Natürlich (!), es ist eine Frage des Masses. Aber mit den im Buch gemachten plakativen Aussagen wird die Frage des Masses eben gerade nicht gestellt.
Die Autoren beziehen sich in ihrer Argumentation auf die
Stadien der kindlichen Entwicklung nach Piaget (
Biblionetz:w01735) und konstatieren dann, dass vor dem Erreichen des
formal-operativen Denkens die Nutzung digitaler Medien nicht sinnvoll sei, da Kinder vorher ja digitale Medien nicht wirklich durchschauen und kompetent nützen könnten. Auch dies ist wieder eine sehr plakative, übervereinfachte Sichtweise.
Geschätzt die Hälfte der im Buch gemachten Aussagen lässt sich relativ einfach relativieren, indem man den
Bücher-Check macht und den Begriff
elektronische Medien durch
Bücher ersetzt.
Interessant ist die Untermauerung der im Buch gemachten Aussagen. Die Autoren häufen in einer erstaunlichen Mischung Experten- und Medienmeinungen aufeinander, pochen einerseits auf die Aussagekraft akademischer Abschlüsse, zitieren aber bereits im nächsten Abschnitt die Bildzeitung:
Diesen Aussagen kann Prof. Thomas Fischer nur zustimmen. Er hat die Welt in vielen Facetten studiert und drei Studienfächer abgeschlossen (Betriebsökonomie, Jura und Psychologie). Seit 2011 ist er Lehrbeauftragter für Führungspsychologie, und zwar an der Hochschule für Wirtschaft der Fachhochschule Nordwestschweiz. Daher hat er einen Überblick, wohin einseitigen Entwicklungen in der Kindheit führen.
Fischer: »Meine Sorge ist es, dass die Digitalisierung den Kindern zu wenig Raum gibt, sich wirklich physisch im Leben einzuleben.« Es sei viel einfacher, »ein Kind vor die Flimmerkiste zu setzen, als mit ihm draußen im Wald spazieren zu gehen, wo man einen Tannenzapfen aufheben und fortwerfen kann.« Der Psychologe verweist auf Piaget: »Zu Beginn des Lebens werden motorische Schemata neurophysiologisch aufgebaut, die großen Verbindungen im Gehirn.«
[...]
In dieser Frage bekommt Fischer Schützenhilfe aus einer erstaunlichen Ecke. Die Bild-Zeitung sorgt sich auch um das Wohl der Kinder, die im digitalen Zeitalter groß werden. Sie stellt in einer Überschrift am 09. September 2014 die Frage: »Ab wann braucht mein Kind ein Smartphone?« Der Tipp für Vater und Mutter: »Vor dem dritten Geburtstag sollte kein Kind ein mobiles Gerät in die Hand bekommen auch nicht das der Eltern.
Soso, gewinnt die Aussage von jemandem, der drei Studienfächer abgeschlossen hat an Gewicht? Und auf der gleichen Seite zitiert man aus der BILD-Zeitung als Beleg für eine Aussage? Gerade bei einem Buch über Medienkompetenz aus meiner Sicht eine seltsame Art der Quellenbewertung. Aus dem Buch ist auch nicht ersichtlich, woher die Zitate von Thomas Fischer stammen, eine entsprechende Quellenangabe ist im Buch nicht zu finden. Gerade in solchen Abschnitten des lockeren Erzählens macht das Buch leider den Eindruck eher mit schneller Feder geschrieben worden zu sein.
Mein Fazit: Wenig wirklich brauchbare Kritik. Digitale Mediennutzung benötigt Kritik, aber die plakative Form dieses Buches bringt die Diskussion nicht wirklich weiter. Statt des Buches kann auch wieder einmal die Sammlung der aktuell
67 Argumente gegen digitale Medien in der Bildung überflogen* werden. Geht schneller.
*
Wer mehr Zeit hat, pickt sich aus den dort aufgeführten Argumenten ein ernstzunehmendes aus und überlegt sich Gegenargumente….
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